Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
Kinn auf die Brust fallen, sie war erbleicht und hatte schon einen starren Blick, als sei sie eine jener Frauen, in denen das Feuer der persönlichen Ausstrahlung die Schönheit entzündete. Doch die andere sah aus, als schliefe sie, und ich konnte nicht sicher sein, ob sie tatsächlich gestorben war. Lestat hatte zwei Wunden hinterlassen, eine in der Kehle und eine über der linken Brust, und beide bluteten noch. Jetzt hob er ihre Hand hoch, schnitt mit einem Messer die Pulsader auf, füllte zwei Weingläser und hieß mich sitzen.
›Ich verlasse dich‹, sagte ich unvermittelt. ›Ich möchte es dir jetzt sagen.‹
›Das dachte ich mir‹, antwortete er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, ›und ich wußte auch, daß du es mir nicht durch die Blume sagen würdest. Also sag schon, was für ein Ungeheuer ich bin, was für ein böser Teufel.‹
›Ich fälle kein Urteil über dich‹, fuhr ich fort. ›Du interessierst mich nicht. Mich interessiert, was ich selber bin, und ich glaube jetzt, ich kann mich nicht darauf verlassen, daß du mir darüber die Wahrheit sagst. Du gebrauchst dein Wissen für deine eigene, persönliche Macht.‹ Wie viele Leute, die solche persönlichen Dinge berühren, erwartete ich keine aufrichtige Antwort. Ich sah ihn überhaupt nicht an, sondern hörte nur meine eigenen Worte. Doch dann sah ich, daß seine Miene so war wie am Morgen, als er gesagt hatte, wir müßten miteinander reden. Er hörte mir zu, und plötzlich war ich um Worte verlegen. Der Abgrund zwischen uns, so fühlte ich, war so schmerzlich wie je.
›Warum bist du überhaupt ein Vampir geworden?‹ platzte ich heraus. ›Und warum solch einer! Rachsüchtig und gierig nach Menschenleben, auch wenn du es nicht nötig hast. Dieses Mädchen hier - mußtest du sie auch töten? Hättest du nicht an einer genug gehabt? Und warum hast du sie so erschreckt, bevor du sie umbrachtest, und hast sie so lästerlich hingesetzt, als wolltest du die Götter herausfordern mit deiner Blasphemie?‹
Er hörte zu, ohne zu sprechen, und in der Pause, die darauf folgte, wußte ich wieder nicht, was ich sagen sollte. Lestats Augen waren groß und nachdenklich - so hatte ich sie schon einmal gesehen, ich wußte nicht wann, doch sicher nicht, wenn er mit mir sprach. ›Was, glaubst du denn, ist ein Vampir?‹ fragte er nach einer Weile. ›Ich behaupte nicht, es zu wissen. Du behauptest es. Was ist ein Vampir?‹ Hierauf antwortete er nicht. Es war, als höre er die Unaufrichtigkeit heraus, den Trotz. Er blickte mich nur mit der gleichen ruhigen Miene an. Dann sagte ich: ›Ich weiß nur, daß ich versuchen werde, es herauszufinden, wenn ich mich von dir getrennt habe. Ich werde in der ganzen Welt umherreisen, wenn es nötig ist, um andere Vampire zu finden. Es muß welche geben; ich sehe keinen triftigen Grund, weshalb es sie nicht in großer Zahl geben sollte. Und ich bin überzeugt, daß ich Vampire kennenlernen werde, die mehr mit mir gemeinsam haben als ich mit dir, Vampire, die von Wissensdrang erfüllt sind wie ich und ihre überlegene Vampirnatur dazu gebraucht haben, Geheimnisse zu erlernen, von denen du nicht einmal träumst. Wenn du mir nicht alles verraten hast, dann werde ich es selber entdecken oder von ihnen erfahren, sobald ich sie gefunden habe.‹
Er schüttelte den Kopf. ›Louis!‹ sagte er. ›Du bist immer noch in deine sterbliche Natur verliebt, du jagst den Phantomen deines früheren Selbst nach. Freniére, seine Schwester - es sind für dich Bilder dessen, was du einmal warst und immer noch sein möchtest. Und bei deiner Romanze mit dem sterblichen Leben bist du blind und taub gegen deine Vampirexistenz.‹
Dem widersprach ich sofort. ›Meine Vampirexistenz ist für mich das größte Abenteuer meines Lebens; alles, was vorher gewesen, war wirr und trübe. Ich bin durch mein sterbliches Dasein gegangen wie ein Blinder, der sich von einem Gegenstand zum ändern tastet. Erst als ich Vampir wurde, begann ich das Leben in seiner Ganzheit zu achten. Nie hatte ich vorher ein lebendes, pulsierendes menschliches Wesen wirklich gesehen, niemals gewußt, was das Leben war, bis es in einem roten Strahl über meine Lippen, meine Hände strömte!‹ Ich ertappte mich dabei, wie ich auf die beiden Frauen starrte. Die Dunkle verfärbte sich bläulich, die Blonde atmete noch. ›Sie ist nicht tot‹, rief ich aus.
›Ich weiß, laß sie in Ruhe!‹ Er hob ihre Hand, machte einen neuen Einschnitt in den Puls und füllte sein
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