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Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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spitzen Schnabel, der so schnell und heftig saugt, daß man denken könnte, er habe gar keine Füßchen, um sich niederzulassen, und nur von Blüte zu Blüte flattert, um in ihr Inneres einzudringen. Ich bin eine Vampirnatur, mehr als du selber es bist. Und nun ist der Schlaf von fünfundsechzig Jahren zu Ende.‹
    Der Schlaf von fünfundsechzig Jahren! Ungläubig hörte ich sie es aussprechen, wollte nicht glauben, daß sie es wußte und genau meinte, was sie sagte. Denn es war auf den Tag so lange her, daß ich vergebens versucht hatte. Lestat zu verlassen, und, in Liebe zu ihr entbrannt, mein zermartertes Hirn und meine quälenden Fragen vergaß. Und jetzt hatte sie die quälenden Fragen auf den Lippen und begehrte zu wissen. Sie ging langsam zur Mitte des Zimmers und verstreute den Lavendel über den ganzen Boden, knickte den spröden Stiel und führte ihn an die Lippen. Und nachdem sie nun die ganze Geschichte gehört hatte, sagte sie: ›Er schuf mich also - zu deiner Gefährtin. Keine Ketten hätten dich gehalten in deiner Einsamkeit, und er konnte dir nichts geben. Und mir kann er auch nichts geben… Einst fand ich ihn bezaubernd. Ich liebte seine Art zu gehen, wie er den Spazierstock auf das Pflaster setzte, wie er mich aufhob und in die Arme nahm. Und die Hingabe, mit der er tötete, so rückhaltlos wie ich selbst. Aber nun bin ich nicht mehr von ihm verzaubert, und du bist es nie gewesen. Wir waren seine Marionetten, du und ich; du bist geblieben, um für ihn zu sorgen, und ich als deine Erlöserin und Begleiterin. Jetzt ist es Zeit, Schluß zu machen, Louis. Die Zeit ist gekommen, ihn zu verlassen.‹
    Ihn zu verlassen - ich hatte nicht daran gedacht, obwohl es so lange mein Traum gewesen war. Ich hatte mich an ihn gewöhnt, als sei er unabdingbar für das Leben selber. In diesem Augenblick hörte ich Geräusche auf dem Hof, und das bedeutete, daß Lestat gekommen war und in wenigen Sekunden die Treppe hinaufgehen würde. Und ich dachte an das, was ich immer empfunden hatte, wenn ich ihn hatte kommen hören, eine vage Unruhe, ein unbestimmtes Verlangen. Und dann überflutete mich die Vorstellung, frei zu sein wie Wasser, das ich lange vergessen, Welle auf Welle kühlen Wassers. ›Er kommt‹, flüsterte ich Claudia zu.
    ›Ich weiß‹, antwortete sie lächelnd. ›Ich habe ihn schon gehört, als er um die Ecke kam.‹
    ›Erwird uns niemals gehen lassen‹, flüsterte ich, obwohl ich begriffen hatte, was sie meinte - ihre Vampirsinne waren scharf. Sie stand erhaben en garde. ›Du kennst ihn nicht, wenn du glaubst, er wird uns gehen lassen‹, sagte ich zu ihr, durch ihr Selbstvertrauen alarmiert.
    Und sie, noch immer lächelnd, sagte: ›Ach… wirklich?‹«

    »Also beschlossen wir, Pläne zu machen. Schon am nächsten Abend kam mein Agent - er beklagte sich immer, daß er bei dem Licht einer einzigen erbärmlichen Kerze arbeiten müsse - und nahm meinen Auftrag entgegen, für Claudia und mich eine Überfahrt nach Europa zu buchen, und zwar auf dem nächsten verfügbaren Schiff, einerlei, in welchem Hafen es anlegen würde. Und von größter Bedeutung war, daß eine wichtige Kiste mit uns befördert würde, eine Kiste, die während des Tages behutsam von unserem Haus abgeholt und an Bord gebracht werden sollte, nicht in den Frachtraum, sondern zu uns in die Kabine. Und dann mußten Vorkehrungen für Lestat getroffen werden. Ich hatte vor, ihm die Mieten für mehrere Läden und Stadthäuser und eine kleine Baufirma zu überlassen, die ihren Sitz in der Faubourg Marigny hatte. Bereitwillig gab ich ihm dazu mein schriftliches Einverständnis. Ich wollte unsere Freiheit erkaufen, und Lestat sollte davon überzeugt werden, daß Claudia und ich nur eine größere Reise vorhatten und daß er in dem Stil weiterleben könne, den er gewohnt war; er würde sein eigenes Geld haben und brauchte sich in keinem Fall an mich zu wenden. Alle vergangenen Jahre war er von mir abhängig gewesen; er hatte zwar seine Bezüge von mir verlangt, als wäre ich sein Bankier, und mir stets mit den spöttischsten Worten gedankt, die ihm zu Gebote standen, doch er haßte seine Abhängigkeit. Ich machte mir seine Habgier zunutze und hoffte dadurch, seinen Argwohn zu zerstreuen, doch mir war dabei nicht ganz geheuer, überzeugt, er könne jede Regung in meinem Gesicht lesen. Ich bezweifelte die Möglichkeit, ihm zu entfliehen. Verstehst du - ich handelte so, als glaubte ich es, doch in Wahrheit glaubte ich es nicht.
    Claudia

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