Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
wissen, daß die Toten wandeln, und man sich Geschichten von Vampiren erzählt. In jedem Dorf, wo wir dem Vampir begegneten, war es das gleiche.«
»Eine vernunftlose Kreatur?« fragte der Junge.
»Überall. Wenn wir überhaupt solche Geschöpfe fanden. An einige erinnere ich mich. Manchmal beobachteten wir sie nur aus der Entfernung, inzwischen allzu vertraut mit ihren schwerfällig sich wiegenden Köpfen, den mageren Schultern, der zerschlissenen, muffigen Kleidung. In einem Dorf war es eine Frau, erst ein paar Monate tot; die Bauern hatten sie erblickt und wußten ihren Namen. Sie als einzige hat uns Hoffnung gemacht nach der Enttäuschung mit dem Ungetüm in Transsylvanien, und auch diese Hoffnung wurde zunichte. Sie lief durch den Wald vor uns davon; wir hinter ihr her und versuchten, sie bei ihrem langen schwarzen Haar zu fassen. Ihr weißes Leichenhemd war mit Blut getränkt, die Hände schmutzverkrustet. Und die Augen… ausdruckslos, leer, zwei Pfützen, in denen sich der Mond spiegelte. Keine Geheimnisse, keine Wahrheiten, nur Verzweiflung.«
»Aber was waren diese Kreaturen? Warum waren sie so?« fragte der Junge und verzog angeekelt den Mund. »Ich verstehe es nicht. Wie konnten sie so anders sein als Sie und Claudia, und doch existieren?«
»Ich hatte meine Vermutungen, und Claudia auch. Was ich damals allerdings am stärksten empfand, war Verzweiflung. Und in der Verzweiflung die immer wiederkehrende Angst, daß wir den einzigen Vampir umgebracht hatten, der so gewesen war wie wir. Doch es schien undenkbar. Hätte Lestat die Weisheit eines Zauberers besessen, die Kräfte eines Hexenmeisters… ich wäre vielleicht zu der Einsicht gekommen, daß er es irgendwie fertiggebracht hätte, den Instinkten, die jene Ungetüme beherrschten, ein bewußtes Leben zu entreißen. Aber er war nur Lestat, wie ich ihn dir beschrieben habe, bar jeden Geheimnisses, und seine Grenzen wurden mir in diesen Monaten in Südosteuropa ebenso bewußt wie sein Zauber. Ich wollte ihn vergessen und schien doch immer an ihn zu denken, als seien die leeren Nächte eigens dafür geschaffen. Und manchmal stand er mir so lebendig vor Augen, als sei er soeben aus dem Zimmer gegangen und seine Stimme noch nicht verklungen. Und irgendwie lag ein beunruhigender Trost darin, und wider Willen stellte ich ihn mir oft im Geiste vor, nicht so, wie er in der letzten Nacht während des Feuers gewesen war, sondern in anderen Nächten, wie an dem letzten Abend, den er bei uns verbracht hatte, als er müßig mit den Tasten des Klaviers spielte, den Kopf auf die Seite gelegt. Mir wurde fast übel, wenn ich sah, was meine Träume anrichteten. Ich wollte ihn wieder lebendig! In den dunklen Nächten in Südosteuropa war Lestat der einzige wirkliche Vampir, den ich gefunden hatte.
Claudias Gedanken hingegen waren mehr praktischer Art. Immer wieder mußte ich ihr von der Nacht in dem Hotel in New Orleans erzählen, wo sie ein Vampir geworden war, und immer wieder suchte sie in diesem Vorgang den Schlüssel zu der Tatsache, daß unsere Erlebnisse auf den Dorffriedhöfen uns nicht weitergebracht hatten. Was wäre geschehen, wenn sie, nachdem sie Lestats Blut getrunken, in ein Grab gelegt worden wäre, eingeschlossen, bis der übernatürliche Drang nach Blut sie gezwungen hätte, die steinerne Tür ihres Gefängnisses aufzubrechen - wes Geistes wäre sie wohl dann gewesen, ausgehungert bis zum äußersten? Ihr Leib hätte sich, auch ohne Geist, selbst geholfen, und sie wäre, Zerstörung verbreitend, durch die Welt getaumelt, so wie die Kreaturen, die wir nun gesehen hatten. So deutete sich Claudia ihre Existenz. Aber wer hatte jene in die Welt gesetzt, wie hatten sie angefangen? Das war es, was sie nicht erklären konnte und was sie immer noch zu entdecken hoffte, wenn ich, des Forschens müde, die Hoffnung aufgab. ›Sie erzeugen ihre eigene Gattung, das ist klar‹, sagte sie, ›aber wo fängt es an?‹ Und dann, als wir schon in der Nähe von Wien waren, stellte sie mir die Frage, die sie bisher noch nicht über die Lippen gebracht hatte: Warum konnte ich nicht machen, was Lestat mit uns beiden gemacht hatte? Warum konnte ich nicht auch einen Vampir erschaffen? Ich weiß nicht, warum ich Claudia zuerst gar nicht verstanden habe, nur daß ich, im Abscheu vor dem, was ich war, eine besondere Furcht vor dieser Frage empfand, die mir schlimmer erschien als jede andere. Verstehst du - ich begriff eine gewisse Kraft in mir selber nicht. Jahre zuvor hatte
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