Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
und stattlichen Kirchen, den breiten neuen Boulevards und engen mittelalterlichen Gassen - ungeheuerlich und unzerstörbar wie die Natur selbst. Es war erfüllt von einer lebhaften und begeisterten Bevölkerung, die sich in den Galerien, Theatern und Cafes drängte; es war die Geburtsstätte von Genialität und Heiligkeit, Philosophie und Kunst, so daß man denken konnte, wenn die ganze übrige Welt in Dunkelheit versinken müßte, so würde hier noch immer alles Wesentliche, alle Schönheit und Weisheit zur feinsten Blüte kommen. Sogar die majestätischen Bäume in den Straßen und Alleen waren auf die Stadt abgestimmt - so wie die Gewässer der Seine, die sich gezähmt und sittsam durch ihr Herz wand -, und jeder Fußbreit der geschichtsträchtigen Erde war nicht mehr Erde schlechthin, sondern war Paris geworden.
Wir lebten wieder. Wir liebten uns, und so euphorisch war ich nach den hoffnungslosen Nächten unserer Wanderung durch Südosteuropa, daß ich keinen Einspruch erhob, als Claudia darauf bestand, daß wir uns im Hotel Saint-Gabriel auf dem Boulevard des Capucines einlogierten. Es soll eines der größten und schönsten Hotels Europas gewesen sein; gegen die geräumigen Zimmer unserer Suite kamen uns die ‘unserer Wohnung in New Orleans wie Puppenstuben vor. Die Fenster gingen auf den gasbeleuchteten Boulevard, über den sich in den Abendstunden ein Strom von Passanten und Wagen ergoß, wenn die eleganten Damen mit ihren Kavalieren zur Oper und zu den Theatern, zu Bällen und Emp fängen fuhren.
Dieses Hotel, so erklärte Claudia, bot uns vollkommene Freiheit; unsere nächtlichen Gewohnheiten blieben in dem ständigen Kommen und Gehen unbemerkt; die Zimmer wurden von einem anonymen Bedientenstab in peinlicher Ordnung gehalten, während uns der immense Preis Ungestörtheit und Sicherheit garantierte. Claudia führte die Vorzüge dieses Aufwandes ruhig und logisch an, doch ihr Hang zum Luxus, ihre verschwenderischen Einkäufe hatten noch andere Gründe.
›Dies ist meine Welt‹, sagte sie, als sie in einem kleinen Samtsessel vor dem geöffneten Balkon saß und die Broughams beobachtete, die vor dem Hotel hielten. ›Ich muß es so haben, wie ich es mag.‹ Und es war so, wie sie es mochte - überwältigende Tapeten in Rosa und Gold, üppige Möbelstoffe in Damast und Samt, gestickte Kissen und seidene Behänge an dem Himmelbett. Täglich kamen Dutzende von Rosen für die marmornen Kaminsimse und die eingelegten Tische und wurden von den schräg geneigten Spiegeln vervielfältigt. Und die Fenster und Glastüren verstellte sie mit regelrechten Gärten von Kamelien und Farnkräutern. ›Ich brauche die Blumen‹, sagte sie verträumt, ›mehr als alles brauche ich die Blumen.‹ Auch in den Gemälden, die wir in den Läden und Galerien kauften, mußten Blumen sein - klassisch und naturgetreu gemalt, so daß man die Blütenblätter, die auf einem gemalten Tischtuch lagen, förmlich greifen konnte, oder in einem neuen, verwirrenden Stil, wo die Farben in einer solchen Intensität schimmerten, daß sie die hergebrachten Formen sprengten und eine Vision erzeugten, ähnlich dem Zustand, in welchem ich dem Delirium nahe bin und Blumen vor meinen Augen aufsteigen und flackern sehe wie die Gasflammen eines Kronleuchters. Paris flutete mit diesen Bildern in unsere Zimmer.
Ich fühlte mich in unseren Hotelzimmern bald zu Hause, vergaß meine Träume und genoß die Annehmlichkeiten, die ich Claudias sanfter Hartnäckigkeit verdankte. Die Luft war süß wie in unserem Garten in der Rue Royale, und dazu kam eine Fülle von Licht, das sogar an den bemalten Zimmerdecken keine Schatten duldete; es spielte auf den vergoldeten Stuckornamenten und brach sich tausendfach in den Kristallfacetten der Kronleuchter. Es gab keine Dunkelheit. Es gab keine Vampire.
Und selbst wenn wir auf die unerläßliche Jagd gingen, so war es süß zu denken, daß Vater und Tochter den hochzivilisierten Luxus nur für kurze Zeit verließen, um in einem Kabriolett das Seine-Ufer entlang, über den Pont Saint-Michel ins Quartier Latin zu fahren und in den dunklen, engen Straßen in die Vergangenheit zu tauchen. Und nach einer Stunde zum Ticktack der Kaminuhr, den Büchern der Dichter oder den Spielkarten auf dem Intarsientisch zurückzukehren, um uns die vielfältigen Geräusche des großen Hotels, die Stimme einer Frau im Nebenzimmer, entfernte Geigenklänge und hoch über uns, im obersten Stockwerk, ein Mann, der immer wieder in die Nacht
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