Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
mit den zwei winzigen Lidern sah ihr Gesicht im Mondschein wie das einer Marmorstatue aus. Und dann begann ihr Körper sich langsam zu wiegen. ›Claudia!‹ rief ich. Sie erwachte und zeigte auf den Menschen, der neben der Mauer auf dem Boden lag. Er regte sich nicht, doch ich merkte, daß er nicht tot war. Ich hatte ihn über dem Kampf mit dem Vampir ganz vergessen; nun sah ich ihn an, und irgendwie wußte ich, was sein Schicksal sein würde, aber ich scherte mich nicht darum. Ich spürte, daß es nur noch eine Stunde bis zur Dämmerung war.
›Er bewegt sich‹, sagte Claudia, und ich versuchte aufzustehen. Es wäre besser, er erwacht nicht, wollte ich sagen, besser, er erwacht überhaupt nicht mehr. Sie ging zu ihm, ungerührt vorbei an dem toten Ungetüm, das uns beide fast umgebracht hätte; ich sah sie den Rücken beugen und den Mann vor ihr sich rühren und seine Füße sich im Gras bewegen. Auch ich trat näher; ich weiß nicht, was ich zu sehen erwartet hatte, was für einen verschreckten Bauern oder sonst einen unglücklichen Menschen, der dem Ungeheuer ins Gesicht geblickt hatte, das ihn hierher verschleppt. Und im ersten Augenblick war mir nicht klar, wer hier lag - daß es Morgan war, der junge Engländer, auf dessen bleiches Gesicht der Mond schien, die Male des Vampirs an der Kehle, stumm und ausdruckslos mit seinen blauen Augen vor sich hin starrend.
Plötzlich weiteten sie sich, und er flüsterte ›Louis!‹ in fassungslosem Erstaunen und bewegte die Lippen, als versuche er, weitere Worte zu formen, doch er wiederholte nur ›Louis!‹ und lächelte. Er streckte die Hände nach mir aus; ein trockener schnarrender Laut kam aus seinem Mund, während er sich aufzurichten bemühte. Sein bleiches Gesicht verzerrte sich, als der Ton erstarb, und er nickte verzweifelt, und das rote, wirre Haar fiel ihm in die Stirn. Ich wandte mich ab und wollte davonlaufen, doch Claudia kam mir nach, ergriff meinen Arm und zischte: ›Siehst du nicht, wie der Himmel sich färbt?‹ Hinter mir rief Morgan wieder ›Louis!‹; er schien die Ruinen nicht zu sehen, nicht die Nacht - nichts außer einem Gesicht, das er wiedererkannte und dessen Namen er wiederholte. Ich hielt mir die Ohren zu und flüchtete vor ihm. Erhob die Hand, sie blutete; ich konnte das Blut sehen und riechen. Und Claudia roch es auch.
Blitzschnell ließ sie sich neben ihm nieder, drückte ihn auf die Steine zurück und fuhr ihm mit ihren weißen Fingern durchs Haar. Er versuchte den Kopf zu heben, streckte die Arme aus und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Und plötzlich streichelte er ihre blonden Locken. Claudia grub ihre Zähne in seinen Hals, und er ließ hilflos die Hände sinken.
Am Waldrand holte sie mich ein. ›Du mußt zu ihm gehen, ihn nehmen‹, gebot sie. Ich konnte die Wärme in ihren Wangen sehen, das Blut auf ihren Lippen riechen. Aber ich rührte mich nicht. ›Hör auf mich, Louis‹, sagte sie, und es klang zornig und verzweifelt zugleich, ›ich habe ihn dir gelassen, aber er stirbt… es ist keine Zeit zu verlieren.‹
Ich hob sie in meine Arme und begann den langen Abstieg. Es war keine Vorsicht mehr nötig, keine Heimlichkeit; es erwarteten uns keine übernatürlichen Horden. Die Tür zu den Geheimnissen Osteuropas blieb uns verschlossen. Ich bahnte mir durch die Dunkelheit den Weg zur Straße. Claudia rief aus ›Höre doch auf mich!‹ und klammerte sich an meinen Mantel, meine Haare. Ich schritt beharrlich weiter. ›Siehst du nicht den Himmel?‹ rief sie vorwurfsvoll und begann zu schluchzen, doch ich durchwatete den kalten Bach und suchte die Laterne auf der Straße.
Ich fand unseren Wagen. ›Gib mir das Kruzifixe sagte ich, als wir oben saßen und ich mit der Peitsche knallte. ›Wir müssen ins Dorf zurück.‹ Der Wagen ruckte an.
Mir war nicht ganz geheuer, als ich sah, wie der Nebel zwischen den dunklen Bäumen aufstieg. Die Luft war kühl und frisch, die ersten Vö gel zwitscherten, und man hätte meinen können, die Sonne ging auf. Aber ich sagte mir, es ist noch genug Zeit. Es war ein herrliches, beruhigendes Gefühl. Noch brannten die Kratzer und Schnitte in meinem Fleisch, und mein Herz hungerte, doch im Kopf war mir wunderbar leicht. Bis ich den Kirchturm sah und den grauen Schatten des Wirtshauses - sie waren zu deutlich, und die Sterne am Himmel schwanden schnell.
Ich klopfte laut an der Wirtshaustür. Als geöffnet wurde, zog ich mir die Kapuze fest ums Gesicht und hielt Claudia in meinem Mantel
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