Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
verfehlten. Und Angst schwelte in mir hoch.
Einen Augenblick lang schien er wie abwesend zu sein, unbeschreiblich schön im Glanz des Feuers, wie sein kastanienbraunes Haar seine Stirn umsäumte und seine Lippen in glückseligem Lächeln geöffnet waren.
»Wenn uns schon die alten Bräuche für immer verloren sind, können wir dann nicht wenigstens einander haben?« fragte er, und seine Stimme hatte wieder jenen verführerischen Klang. »Wer sonst vermag dein Leid zu verstehen? Wer sonst weiß, was in dir vorging, als du damals auf der Bühne deines kleinen Theaters warst und all die, die du liebtest, zu Tode erschreckt hast?«
»Sprich nicht darüber«, flüsterte ich. Aber ich entspannte mich zusehends, verlor mich in seinen Augen und seiner Stimme. Ich war am Rande einer Ekstase, wie sie mich in jener Nacht auf den Zinnen heimgesucht hatte. Mit meiner ganzen Willenskraft reckte ich Gabrielle meine Hände entgegen.
»Wer versteht schon, was in dir vorging, als meine abtrünnigen Jünger in der Musik deines herzigen Geigers schwelgten und ihr greuliches Boulevardunternehmen ausheckten?«
Ich antwortete nicht.
»Das Theater der Vampire!« Seine Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. »Versteht sie die ganze Ironie, die ganze Grausamkeit? Weiß sie, wie es war, als du als junger Mann auf dieser Bühne standst, umtost vom Jubel des Publikums? Als die Zeit noch dein Freund war und nicht dein Feind, wie jetzt? Als du hinter den Kulissen deine Arme ausgebreitet hast und sich die sterblichen Lieblinge deiner kleinen Familie an dich kuschelten… «
»Hör auf, bitte.«
»Weiß sonst jemand um die ganze Tiefe deiner Seele?«
Hexerei. War sie jemals mit größerem Geschick eingesetzt worden? Und in Wirklichkeit sagte er uns in diesem Strom schöner Worte nur: Kommt zu mir, und ich werde die Sonne sein, die ihr umkreist, und meine Strahlen werden die Geheimnisse freilegen, die ihr voreinander verbergt, und ich, der ich die Zauberkraft besitze, von deren Macht ihr nichts ahnt, werde euch beherrschen und besitzen und vernichten!
»Ich habe dich schon vorher gefragt«, sagte ich. »Was willst du? Was willst du wirklich?«
»Dich!« sagte er. »Dich und sie! Auf daß wir an diesem Scheideweg einen Dreierbund schließen!«
Nicht , daß wir uns dir ergeben?
Ich schüttelte den Kopf. Und ich bemerkte, daß Gabrielle ebenso zurückschaudernd Vorsicht walten ließ.
Er war nicht verärgert; er hegte jetzt keinerlei Groll. Doch wieder sagte er in verführerischem Ton: »Ich verfluche dich. Ich habe mich dir in dem Moment angeboten, da du mich bezwungen hast. Denke daran, wenn deine Nachtkinder gegen dich losschlagen, wenn sie sich gegen dich erheben. Denk an mich.«
Ich war erschüttert, stärker noch als bei dem schrecklichen und traurigen Endkampf mit Nicki in Renauds Theater. Kein einziges Mal hatte ich in der Gruft unter Les Innocents Angst verspürt. Aber seit wir diesen Raum hier betreten hatten, hatte ich Angst.
Und wieder wallte in ihm Wut auf, so heftig, daß er sie nicht im Zaum halten konnte.
Ich beobachtete ihn, wie er seinen Kopf senkte und sich abwandte. Er stand am Feuer und dachte sich die wildesten Drohungen für mich aus, ich konnte sie hören, obwohl sie sich verflüchtigten, noch ehe sie seine Lippen erreicht hatten.
Aber für den Bruchteil einer Sekunde trübte irgend etwas meine Sicht. Vielleicht war es eine tropfende Kerze. Vielleicht hatte ich auch nur mit den Augen gezwinkert. Doch was es auch war, er verschwand. Oder er versuchte zu verschwinden, und ich sah ihn wie einen Kometenschweif vom Kamin fortspringen.
»Nein!« rief ich und stürzte mich auf etwas, das ich nicht einmal sehen konnte, und schon hielt ich ihn, der wieder leiblich geworden war, zwischen meinen Händen.
Er hatte sich nur sehr schnell bewegt, und ich hatte mich noch schneller bewegt, und wir standen uns in der Tür gegenüber.
»Nein, nicht so. Wir können uns nicht trennen. Wir können nicht in Haß auseinandergehen.« Und meine Willenskräfte schmolzen plötzlich dahin, als ich ihn umarmte und ihn so festhielt, daß er sich weder befreien noch bewegen konnte.
Es war mir gleichgültig, was er war oder wie sehr er mich angelogen hatte, daß er versucht hatte, mich zu überwältigen, es war mir gleichgültig, daß ich nicht mehr sterblich war und es nie wieder sein würde. Ich wollte nur, daß er bliebe. Ich wollte bei ihm sein, so wie er war, und alles, was er gesagt hatte, war nichts als die Wahrheit
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