Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
Christus nichts anderes war als ein weiterer Gott des Waldes, der starb und wiederauferstand, so wie es Dionysos oder Osiris vor ihm getan hatten, und daß die Jungfrau Maria in Wirklichkeit nur die Gute Mutter war, die wieder in einen Schrein gestellt wurde. Sie lebten in einem anderen Zeitalter des Glaubens und der Überzeugung, in dem wir zu Teufeln wurden, losgelöst von dem, was sie glaubten, da das alte Wissen vergessen war oder falsch verstanden wurde.
Aber das mußte ja so kommen. Den alten Griechen und Römern waren menschliche Opfer ein Greuel. Und auch ich habe es immer gräßlich gefunden, wie die Kelten ihre Bösewichter für den Gott verbrannten. Genauso erging es den Christen. Wie hätte man also uns Götter, die Menschenblut tranken, als ›gut‹ ansehen können?
Aber die richtige Verirrung begann erst, als die Kinder der Finsternis dem christlichen Teufel zu dienen glaubten und genau wie die schrecklichen Götter des Ostens damit begannen, das Böse hochzuschätzen, an seine Macht zu glauben und ihm einen angemessenen Platz in der Welt zu verschaffen.
Hör auf mich, wenn ich sage: Es hat in der westlichen Welt nie einen angemessenen Platz für das Böse gegeben. Es ist nie leicht gewesen, einen rechten Ort für den Tod zu finden.
Ganz gleich, wie gewaltsam es seit dem Untergang des römischen Reichs durch die Jahrhunderte hindurch zugegangen ist, ganz gleich, wie schrecklich die Kriege waren, die Verfolgung, das Unrecht - der Wert des menschlichen Lebens wurde mit der Zeit nur höher eingeschätzt.
Selbst als die Kirche schon Statuen und Bilder von ihrem blutigen Christus und ihren blutigen Märtyrern errichtet hatte, hielt sie noch an dem Glauben fest, daß diese Tode, die den Gläubigen so gute Dienste leisten, nur durch die Hand des Feindes herbeigeführt worden sein konnten, nicht aber durch Gottes eigene Priester.
Es ist der Glaube an den Wert des menschlichen Lebens, der dazu geführt hat, daß schließlich Folterkammern und Scheiterhaufen und noch gräßlichere Methoden der Hinrichtung überall in Europa abgeschafft wurden. Und es ist der Glaube an den Wert des menschlichen Lebens, der heute die Monarchie zu Republiken von Amerika und Frankreich werden läßt.
Und jetzt stehen wir wieder am Beginn eines atheistischen Zeitalters - eines Zeitalters, in dem der christliche Glaube zerfällt, so wie einmal das Heidentum zerfallen ist, und in dem der neue Humanismus, der Glaube an den Menschen und seine Leistungen und seine Rechte, stärker ist denn je.
Natürlich wissen wir nicht, was geschehen wird, wenn die alten Religionen völlig vergehen. Das Christentum hat sich einst aus der Asche des Heidentums erhoben, nur um die alte Form der Gottesverehrung durch eine neue zu ersetzen. Vielleicht erhebt sich jetzt eine neue Religion. Vielleicht verfällt der Mensch jetzt ohne sie in Zynismus und Egoismus, weil er seine Götter einfach braucht.
Aber vielleicht findet auch etwas viel Wunderbareres statt: daß sich die Welt wirklich weiterentwickelt und alle Götter und Göttinnen hinter sich läßt und alle Engel und Teufel. Und in einer solchen Welt, Lestat, wird für uns noch weniger Platz sein als in jeder anderen.
Am Ende sind all die Geschichten, die ich dir erzählt habe, zu gar nichts nutze, genauso wie jedes Wissen, weder für die Menschen noch für uns. Die alten Bilder und die Poesie können wunderschön sein; sie lassen uns erschaudern, weil sie uns vor Augen führen, was wir schon immer geahnt und gefühlt haben. Sie machen für uns eine Zeit lebendig, in der die Erde für den Menschen noch neu und wunderbar war. Aber wir kehren immer wieder in die Welt zurück, wie sie heute ist.
Und in dieser Welt ist der Vampir nur ein finsterer Gott. Er ist ein Kind der Finsternis. Etwas anderes kann er nicht sein. Und wenn er dem menschlichen Geist irgendwie wunderbare Macht verleiht, dann nur deshalb, weil die menschliche Phantasie eine geheime Stätte primitiver Erinnerungen und uneingestandener Wünsche ist. Der menschliche Geist ist, um es mit deinen Worten zu sagen, ein Wilder Garten, in dem alle Arten von Kreaturen aufsteigen und untergehen, und es werden Hymnen gesungen, und es entstehen Träume, die am Ende verurteilt und geleugnet werden müssen.
Und doch lieben uns die Menschen, wenn sie uns kennen. Sogar jetzt lieben sie uns. Die Menschen in Paris lieben, was sie auf der Bühne des Theaters der Vampire sehen. Und diejenigen, welche dich und deinesgleichen in den Ballsälen der Welt
Weitere Kostenlose Bücher