Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
die Schmerzen, wenn man Dinge sterben sieht…« All die Dinge, vor denen Armand mich gewarnt hatte.
»Natürlich. Du bist gemacht, um die Zeit zu besiegen, und nicht, um vor ihr wegzulaufen. Und du wirst unter deinem Geheimnis zu leiden haben, deiner Monstrosität, und weil du töten mußt. Und vielleicht wirst du sogar versuchen, dich nur von Übeltätern zu nähren, um dein Gewissen zu beruhigen, und vielleicht gelingt es dir sogar, vielleicht aber auch nicht. Du kannst dem Leben sehr nahekommen, wenn du dein Geheimnis zu hüten verstehst. Du bist dem Leben sehr nahe, wie du den Mitgliedern des alten Pariser Ordens selbst einmal gesagt hast. Du bist die Nachahmung eines Menschen.«
»Ich will es tun, ich will es wirklich -«
»Dann befolge meinen Rat. Aber das eine mußt du wissen: In realer Hinsicht bedeutet die Ewigkeit nur, ein menschliches Leben nach dem anderen zu leben. Natürlich können Zeiten kommen, in denen man sich zurückzieht, Zeiten, in denen man schläft oder nur zuschaut. Aber dann stürzen wir uns immer wieder von neuem in den Strom und schwimmen, solange wir können, bis wir, genau wie alle Sterblichen, von der Zeit oder dem Schicksal ereilt werden.«
»Und du? Wirst du es wieder tun? Wirst du diese Abgeschiedenheit verlassen und dich wieder in den Strom stürzen?«
»Ja, ganz bestimmt. Wenn der richtige Augenblick gekommen ist. Wenn die Welt wieder so interessant geworden ist, daß ich ihr nicht widerstehen kann. Dann werde ich wieder durch die Straßen der Städte gehen. Einen Namen annehmen. Dinge tun.«
»Dann komm jetzt, komm mit mir!« Ah! Armands schmerzhaftes Echo! Und Gabrielles vergebliches Drängen zehn Jahre später.
»Diese Einladung ist verlockender, als du dir vorstellen kannst«, erwiderte er, »aber ich würde dir keinen guten Dienst erweisen, wenn ich mitkäme. Ich würde zwischen dir und der Welt stehen. Das könnte ich nicht ändern.«
Ich schüttelte den Kopf und sah voller Bitterkeit weg.
»Willst du weitermachen?« fragte er. »Oder willst du, daß Gabrielles Vorhersagen wahr werden?«
»Ich will weitermachen«, sagte ich.
»Dann mußt du gehen«, sagte er. »In hundert Jahren, vielleicht früher, werden wir uns wiedersehen. Dann werde ich nicht mehr auf dieser Insel sein. Ich werde JENE, DIE BEWAHRT WERDEN MÜSSEN an einen anderen Ort gebracht haben. Aber wo immer ich bin und wo immer du bist, ich werde dich finden. Und dann werde ich es sein, der nicht will, daß du mich verläßt. Dann werde ich dich bitten, bei mir zu bleiben. Ich werde deine Gesellschaft lieben, die Gespräche mit dir, den bloßen Anblick von dir, deine Vitalität und deine Rücksichtslosigkeit und dein Unvermögen, an irgend etwas zu glauben - all die Dinge, die ich bereits jetzt so sehr an dir liebe.«
Seine Worte zerrissen mir fast das Herz. Am liebsten hätte ich ihn angefleht, bei ihm bleiben zu dürfen.
»Und geht das jetzt wirklich nicht?« fragte ich. »Kannst du mir dieses ganze lange Leben nicht ersparen, Marius?«
»Völlig unmöglich«, sagte er. »Ich könnte dir für alle Zeiten Geschichten erzählen, aber sie wären kein Ersatz für das wirkliche Leben. Glaube mir, ich habe es schon anderen zu ersparen versucht. Es ist mir nie gelungen. Ich kann dir nicht die Erfahrungen eines ganzen Lebens geben. Ich hätte Armand niemals so jung zu mir nehmen dürfen; seine jahrhundertelangen Wahnsinnstaten und Leiden quälen mich noch heute. Du hast ihm einen Dienst erwiesen, daß du ihn zu einem Leben im Paris dieses Jahrhunderts gezwungen hast, aber ich fürchte, daß es schon zu spät ist für ihn. Du mußt mir glauben, Lestat, wenn ich sage, daß es unbedingt nötig ist, es muß sein. Du brauchst dieses Leben, denn alle, denen es nicht vergönnt war, fühlen sich unglücklich, bis sie es schließlich doch irgendwo gelebt haben, oder sie gehen zugrunde.«
»Und was ist mit Gabrielle?«
»Gabrielle hat ihr Leben gelebt; sie hat fast ihren Tod erlebt. Sie hat die Kraft, in die Welt zurückzukehren, wenn sie will, oder aber für alle Zeiten in ihren Grenzzonen weiterzuleben.«
»Und glaubst du, daß sie je zurückkehren wird?«
»Das weiß ich nicht«, sagte er. »Sie entzieht sich meinem Verständnis. Nicht meiner Erfahrung - sie ist wie Pandora. Und Pandora habe ich nie verstanden. Die meisten Frauen sind schwach, ob sterblich oder unsterblich, das ist eine Tatsache. Wenn sie aber stark sind, dann ist alles möglich.«
Ich schüttelte den Kopf. Für einen Augenblick schloß ich
Weitere Kostenlose Bücher