Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
einer alten Schuld.« Ihre Worte schockierten mich ein wenig. Ich hätte nie gedacht, daß eine Frau derlei fehlen oder aussprechen könnte. »Nicolas’ Vater weiß, was ihr vorhabt«, fuhr sie fort. »Der Wirt hat euch belauscht. Darum dürft ihr jetzt keine Zeit mehr verlieren. Nehmt die Kutsche bei Tagesanbruch, und schreibe mir, sobald ihr in Paris angekommen seid. Beim Friedhof Les Innocents in der Nähe vom Marktplatz von St.-Germain findest du Briefschreiber. Treibe einen auf, der italienisch schreiben kann, damit niemand außer mir deinen Brief zu lesen vermag.«
Nachdem sie gegangen war, konnte ich kaum fassen, was mir soeben widerfahren war. Ich starrte bewegungslos vor mich hin. Ich starrte auf mein Bett mit seiner Strohmatratze, auf meine beiden Jacken und den roten Mantel und meine Lederstiefel neben dem Kamin. Ich starrte durch das Fenster auf die schwarzen, unförmigen Berge, die mir so vertraut waren, und einen kostbaren Augenblick lang hellte sich mein verdüstertes Gemüt auf. Und dann rannte ich die Treppe hinab und den Berg hinunter ins Dorf, um Nicolas zu suchen und ihm mitzuteilen, daß wir nach Paris gehen würden! Nichts und niemand würde uns diesmal daran hindern.
Nicolas war mit seiner Familie bei dem Freudenfeuer. Kaum hatte er mich gesehen, warf er mir die Arme um den Hals, und ich legte den Arm um seine Hüfte und ging mit ihm ans andere Ende der Wiese, wo wir allein sein konnten.
Die Frühlingsluft roch frisch und grün. Sogar der Gesang der Bauern klang nicht allzu schrecklich. Ich tanzte im Kreis herum. »Hol deine Geige!« sagte ich. »Spiel ein Lied über eine Reise nach Paris, wir sind so gut wie unterwegs. Wir brechen in den Morgenstunden auf!«
»Und wovon sollen wir uns in Paris ernähren?« sang er und spielte auf einer unsichtbaren Geige. »Wirst du uns zum Abendessen Ratten schießen?«
»Frag nicht, was wir erst tun, wenn wir dort anlangen!« sagte ich. »Wichtig ist nur, daß wir überhaupt hinkommen.«
7
Keine zwei Wochen später fand ich mich zur Mittagszeit inmitten der Menschenmenge auf dem riesigen Friedhof Les Innocents mit seinen alten Familiengruften und stinkenden offenen Gräbern wieder- der wahnwitzigste Marktplatz, der mir je untergekommen war -, und von Lärm und Modergerüchen umbrandet, beugte ich mich über einen italienischen Briefschreiber und diktierte meinen ersten Brief an meine Mutter.
Ja, wir seien gut angekommen, und wir hätten ein Quartier auf der Ile de la Cité, und wir seien unbeschreiblich glücklich, und Paris sei schöner und großartiger, als die kühnste Phantasie es sich vorstellen könne.
Ich wollte, ich hätte ihr selber schreiben können. Ich wollte, ich hätte ihr erzählen können, wie mir zumute war, als ich diese turmhohen Villen sah, diese altberühmten Straßen, in denen es von Bettlern, Hausierern und Edelleuten wimmelte, diese dreiund vierstöckigen Häuser links und rechts der überfüllten Boulevards. Ich wollte, ich hätte ihr die Kutschen schildern können, die goldüberladen über den Pont Neuf und den Pont Notre Dame rollten, dem Louvre und dem Palais Royal entgegen. Ich wollte, ich hätte ihr die Menschen beschreiben können, die Männer, wie sie mit ihren Kniestrümpfen und silbernen Spazierstöckchen in duftigem Schuhwerk durch den Schlamm staksten, die Damen mit ihren perlenübersäten Perücken und wogenden Reifröcken aus Seide und Musselin, und ich hätte ihr gern erzählt, wie ich Königin Marie Antoinette durch die Tuilerien Spazierengehen sah.
Natürlich hatte sie schon lange vor meiner Geburt viel von der Welt gesehen. Sie hatte mit ihrem Vater in Neapel und London und Rom gelebt. Aber ich wollte ihr erzählen, was ich ihren Überredungskünsten verdankte, wie es war, den Chor in Notre Dame zu hören, mit Nicolas in den überfüllten Cafes zu sitzen und mit seinen alten Kommilitonen zu schwatzen, wie es war, sich in Nicolas’ feinste Kleider zu werfen - er bestand darauf -, um in der Comédie Francaise die Schauspieler zu bewundern.
Statt dessen beschränkte ich mich in meinem Brief auf die Hauptsache: auf die Adresse unserer Mansardenzimmer auf der Ile de la Cité sowie auf folgende Nachricht: »Ich habe eine Stellung in einem der führenden Theater gefunden, um die Kunst des Schauspielens zu erlernen, und habe gute Aussichten, in naher Zukunft eine Rolle angeboten zu bekommen.«
Nicht erzählt habe ich ihr, daß wir sechs Treppen zu unseren Kammern erklimmen mußten, daß unsere Nachbarn Tag und
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