Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
mich verlassen? Magnus, was soll ich nur machen, wie soll es weitergehen?
Ich zog die Knie hoch und legte den Kopf auf sie, und langsam wurden meine Gedanken wieder klarer. Es hatte mir Spaß gemacht, mir auszumalen, ein Vampir zu werden, diese prachtvollen Kleider zu tragen, die Schätze durch die Finger gleiten zu lassen. Aber ich konnte mich einfach nicht von lebendigen Menschen ernähren! Selbst wenn ich ein Monster war, hatte ich noch so etwas wie ein Gewissen, lebte in mir so etwas wie… Gut und Böse. Ich konnte nicht leben, ohne den Glauben an … ich konnte nicht ewig die alten Grundsätze … morgen würde ich … würde ich was?
Ich würde Blut trinken, nicht wahr?
Das Gold und die kostbaren Edelsteine leuchteten in der Truhe wie glühende Kohlen, und durch das vergitterte Fenster sah man in weiter Ferne die Lichter der Stadt gegen die grauen Wolken schimmern. Blut. Warmes, lebendiges Blut, nicht Monsterblut. Ich fuhr mit der Zunge über meine Fangzähne.
Denke daran, Wolfkiller.
6
Schließlich erhob ich mich und nahm den eisernen Schlüsselring. Ich machte mich auf, den Rest meines Turms zu besichtigen.
Leere Zimmer. Vergitterte Fenster. Das Rauschen der Nacht über den Zinnen. Das war alles, was ich in den überirdischen Räumen vorfand. Aber unten im Erdgeschoß, genau neben der Treppentür zu den Verliesen, steckte eine Harzfackel in einer Halterung, und in der Nische daneben stand ein Zunderfaß. Spuren im Staub. Das Schloß war gut geölt und leicht zu öffnen, nachdem ich endlich den passenden Schlüssel gefunden hatte. Meinen Weg mit der Fackel erleuchtend, stieg ich eine schmale Wendeltreppe hinab, ein wenig von dem Gestank umnebelt, der mir von weit unten entgegenschlug.
Natürlich kannte ich diesen Gestank von den Pariser Friedhöfen her. Auf Les Innocents war er so penetrant wie Giftgas, und man mußte ihn einatmen, wenn man mit den Händlern oder Briefschreibern zu tun hatte. Es war der Gestank der Verwesung.
Und obwohl mir anfangs fast schlecht wurde, so daß ich schnell wieder ein paar Stufen treppauf hasten mußte, gewöhnte ich mich alsbald daran, zumal der Geruch des brennenden Harzes alles etwas erträglicher machte.
Ich setzte meinen Weg nach unten fort. Wenn da tote Sterbliche liegen sollten, nun, dann konnte ich auch nichts machen. Doch fand ich in dem ersten unterirdischen Geschoß keine Leichen. Nur eine geräumige, kühle Grabkammer mit offenstehendem Eisengatter und drei riesigen Steinsarkophagen. Sie glich Magnus’ Zelle oben, nur daß sie sehr viel größer war. Die gleiche niedere, gewölbte Decke, der gleiche schmucklose, klaffende Kamin.
Und was konnte das anderes bedeuten, als daß hier einst andere Vampire geruht hatten? Kein Mensch baute Grabkammern mit Kaminen. Es gab sogar Steinbänke. Und die Sarkophage waren wie jener oben mit großen Skulpturen versehen.
Im Lauf der Jahre hatte sich überall eine dicke Staubschicht gebildet. Und an Spinnweben herrschte auch kein Mangel. Mit Sicherheit hausten hier zur Zeit keine Vampire. Völlig unmöglich. Aber seltsam war es schon. Wo waren sie abgeblieben, die einst in diesen Särgen gelegen hatten? Hatten sie sich selbst verbrannt wie Magnus? Oder lebten sie noch irgendwo?
Ich öffnete einen Sarkophag nach dem anderen. Nichts als Staub. Keine Spur, die auf Vampire hingedeutet hätte.
Also verließ ich die Gruft und ging weiter die Treppe hinunter, obgleich der Verwesungsgestank immer stärker wurde. Er quoll hinter einer Gittertür hervor, die ich weit unten sehen konnte, und es kostete mich große Überwindung, meinen Weg fortzusetzen. Natürlich war mir schon als Lebender dieser Gestank unerträglich gewesen, aber längst nicht so sehr wie jetzt. Mein neuer Körper wäre am liebsten geflohen.
Doch der Gestank war nichts gegen den Anblick, der sich mir unten bot. Eine Gefängniszelle, angefüllt mit Leichen in allen möglichen Stadien der Verwesung; die Knochen und das faulende Fleisch wimmelten von Würmern und Geziefer. Vom Licht der Fackel aufgeschreckt, huschten mir Ratten zwischen den Beinen durch und der Treppe entgegen. Der Brechreiz steckte mir wie ein Knoten im Hals. Der Gestank drohte mich zu ersticken. Und doch konnte ich den Blick nicht von diesen Leichen wenden. Hier ging etwas Wichtiges vor, etwas schrecklich Wichtiges, das ergründet werden mußte. Und plötzlich fiel mir auf, daß alle diese Opfer Männer gewesen waren - die Stiefel und zerlumpten Kleider bewiesen es - und samt und sonders so
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