Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
gestohlen hat!< Und doch amüsierte mich der Gedanke. Und war es nicht auch ein neuer Beweis, daß Gott keinerlei Macht über mich hatte?
Und während ich noch solchen Gedanken nachhing, ergriff ich aus dem Schatz einen erlesenen Handspiegel mit perlengeschmücktem Griff. Fast unabsichtlich blickte ich in den Spiegel. Und ich sah, daß meine Haut so weiß wie die des alten Satans geworden war und daß meine Augen nicht mehr blau waren, sondern ein leicht phosphoreszierendes Mittel von Violett und Kobalt angenommen hatten. Mein Haar war von leuchtendem Glanz, und als ich es mit meinen Fingern durchfuhr, spürte ich in ihm eine neue und seltsame Kraft.
Nein, aus dem Spiegel blickte mich nicht Lestat an, sondern sein Abbild, das aus einer anderen Materie bestand! Und die wenigen Falten, die sich in meinen zwanzig Jahren in mein Gesicht eingegraben hatten, waren teils verschwunden, teils holzschnittartig vertieft.
Ich starrte auf das Spiegelbild. Ich wurde fast rasend, mich darin zu entdecken. Ich rieb mir über das Gesicht, rieb sogar über den Spiegel und preßte die Lippen aufeinander, um nicht loszuschreien. Schließlich schloß ich die Augen und öffnete sie wieder, und ich lächelte diesem Wesen sanft zu. Es lächelte zurück. Ja, das war Lestat. Und sein Gesicht strahlte nichts Boshaftes aus. Nicht allzusehr jedenfalls. Lediglich die alte Ausgelassenheit und Leidenschaft. Dieses Geschöpf hätte ohne weiteres für einen Engel gelten können, es sei denn, ihm schössen die Tränen in die Augen, die Tränen, die rot wie Blut waren und die den ganzen Spiegel in Rot tauchten, weil seine Augen dann unter einem blutigen Schleier lagen. Und er hatte freilich diese üblen, kleine Zähne, die auf seiner Unterlippe ruhten, wenn er lächelte, und ihm ein wahrhaft furchteinflößendes Aussehen verliehen. Ein recht annehmbares Gesicht mit einem einzigen, aber schrecklichen Makel!
Doch dann fiel mir plötzlich auf, daß ich mich in dem Spiegel sah! Und hatte man nicht immer wieder gehört, daß Geister und Gespenster und alle, die ihre Seele an die Hölle verloren hatten, ihres Spiegelbilds verlustig gingen?
Und ich wurde von einem brennenden Verlangen erfüllt, zu wissen, wer und was ich nun war. Ich wollte unbedingt wissen, wie es sein würde, sich unter den Sterblichen zu bewegen. Ich wollte in den Straßen von Paris sein, um mit meinen neuen Augen alle Wunder des Lebens aufzusaugen. Ich wollte die Gesichter der Menschen sehen, die blühenden Blumen, die Schmetterlinge. Ich wollte Nicki sehen, wollte ihn seine Musik spielen hören - nein.
Ich mußte mich in Entsagung üben. Aber gab es nicht tausend Arten der Musik? Ich brauchte nur die Augen zu schließen, und schon konnte ich fast das Opernorchester und die Arien hören, so deutlich haftete mir noch alles im Gedächtnis.
Aber nichts würde von jetzt an wie früher sein. Weder Freude noch Schmerz, noch die belangloseste Erinnerung. Alles würde von einer schmerzhaften Sehnsucht nach Dingen bestimmt sein, die unwiederbringlich verloren waren.
Ich legte den Spiegel aus der Hand, nahm ein altes, vergilbtes Spitzentaschentuch aus der Truhe und wischte mir die Tränen. Dann drehte ich mich um und ließ mich langsam vor dem Kamin nieder. Die Wärme tat meinem Gesicht und meinen Händen wohl.
Eine schwere, angenehme Müdigkeit befiel mich, und als ich meine Augen schloß, versank ich sofort in einen seltsamen Traum, in dem Magnus mein Blut trank. Ich war erregt und verzaubert - Magnus hielt mich in den Armen, er war mit mir verbunden, während mein Blut in ihn strömte. Aber ich hörte auch die Ketten auf dem Boden der alten Katakombe rasseln, ich sah den hilflosen Vampir in Magnus’ Armen. Das war nicht einfach ein gewöhnlicher Traum, das war mehr… etwas Wichtiges. Etwas von Bedeutung. Etwas über Diebstahl und Verrat, etwas über Standhaftigkeit gegenüber allem und jedem - Gott, Dämon und Mensch.
Halb wachend, halb träumend dachte ich angestrengt darüber nach und hatte plötzlich den verrückten Einfall, all das Nicki zu erzählen. Sobald ich nur zu Hause wäre, würde ich ihm den Traum schildern, und dann würden wir uns über seine mögliche Bedeutung unterhalten…
Ich schreckte hoch und öffnete die Augen. Der Mensch in mir fühlte sich elend und hilflos und fing wieder zu weinen an. Das neugeborene Monster war noch zu jung, um ihn im Zaum zu halten. Das Geheul kam wie ein Schluckauf hoch, und ich preßte mir die Hand auf den Mund.
Magnus, warum hast du
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