Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
mir selbst entgegengehen.
Ich hatte das Gefühl, mich nicht von der Stelle rühren zu können. Dennoch schob ich mich an dem Arzt und der Krankenschwester vorbei, und ich betrat das Zimmer und schloß die Tür.
Blutgeruch.
Im blaßvioletten Licht des Fensters saß sie da, herrlich in dunkelblauen Taft gekleidet, die eine Hand auf dem Schoß, die andere auf der Armlehne ruhend, ihr volles, gelbes Haar hinter den Ohren zusammengebunden, so daß sich die Locken von den rosa Bändern über ihre Schultern ergossen. Ein Hauch von Rouge lag auf ihren Wangen.
Einen unheimlichen Augenblick lang sah sie mich an wie damals, als ich noch ein kleiner Junge war. So schön. Dem Gleichmaß ihres Gesichts hatten weder Zeit noch Krankheit etwas anhaben können. Ein herzzerreißendes Glück durchströmte mich, der anheimelnde Wahn, daß ich wieder sterblich sei und unschuldig und bei ihr, und alles war wieder gut, wirklich wieder gut.
Es gab weder Tod noch Schrecken, nur sie und ich in ihrem Schlafzimmer, und sie würde mich in ihre Arme nehmen. Ich blieb stehen. Ich stand ganz nahe bei ihr, und sie weinte, als sie aufblickte. Die Haut hing so dünn und farblos an ihrem Hals und ihren Händen, daß ich kaum hinsehen konnte. Sie roch nach Tod. Sie roch nach Verfall. Aber sie strahlte, und sie war mein; sie war, wie sie schon immer gewesen war, und ganz stumm, nur mittels meiner Fähigkeiten sagte ich ihr, daß sie noch so schön sei wie in meinen frühesten Erinnerungen, da sie sorgfältig ihre bunten Gewänder anlegte, um mich in der Kutsche auf ihrem Schoß zur Kirche zu bringen.
Und als ich sie in diesem seltsamen Augenblick das alles wissen ließ, merkte ich, daß sie mich hörte, und sie antwortete mir, daß sie mich liebe und mich immer geliebt habe.
Und das war die Antwort auf eine Frage, die ich niemals gestellt hatte und um deren Bedeutung sie wußte; das sah ich ihren Augen an.
Falls sie die wunderliche Tatsache bemerkt hat, daß wir ohne Worte miteinander sprechen konnten, so hat sie es jedenfalls für sich behalten. Mit Sicherheit hat sie es nicht voll erfaßt. Wahrscheinlich hat sie lediglich einen Liebesschwall erfühlt.
»Komm näher, damit ich dich sehen kann«, sagte sie, »so wie du jetzt bist.«
Die Kerze stand neben ihr auf der Fensterbank. Ich löschte die Flamme aus. Sie runzelte die Stirn, zog ihre blonden Brauen zusammen, und ihre blauen Augen weiteten sich ein wenig, als sie mich und mein leuchtendes Gewand aus Seidenbrokat anblickte, das ich ihr zu Ehren angelegt hatte, und den Degen mit seinem juwelenbesetzten Griff an meiner Hüfte.
»Warum willst du nicht, daß ich dich sehe?« fragte sie. »Ich bin nach Paris gekommen, um dich zu sehen. Zünd die Kerze wieder an.« Aber es lag kein tadelnder Ton in ihrer Stimme. Ich war hier bei ihr, und das genügte.
Ich kniete vor ihr nieder. Ich wollte ihr vorschlagen - die typische Verlegenheitkonversation der Sterblichen -, mit Nicki nach Italien zu reisen, aber noch ehe ich eine Silbe gesprochen hatte, sagte sie:
»Zu spät, mein Liebling, ich würde diese Reise nicht überstehen. Ich bin weit genug gereist.«
Ein Schmerzanfall unterbrach sie, und um sich nichts anmerken zu lassen, bewegte sie keinen Muskel in ihrem Gesicht. Dabei sah sie wie ein kleines Mädchen aus, und wieder roch ich ihre Krankheit, das Vermodern ihrer Lungen und die Blutklumpen darin.
Sie war rasend vor Angst. Sie wollte mir entgegenschreien, daß sie Angst hatte. Sie wollte mich anflehen, sie festzuhalten und bei ihr zu bleiben, bis alles vorbei war, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden, und zu meinem Erstaunen mußte ich feststellen, daß sie dachte, ich würde ihr diese Bitte abschlagen, weil ich zu jung und unbekümmert sei, um für derlei Verständnis zu haben.
Das war der Todeskampf.
Ohne es zu merken, hatte ich mich erhoben und ging durchs Zimmer. Dumme kleine Details prägten sich meinem Bewußtsein ein: spielende Nymphen auf der bemalten Decke, die hohen, vergoldeten Türgriffe und an den weißen Kerzen das geschmolzene Wachs wie bröckelige Tropfsteinfelsen, die ich abbrechen und durchkneten wollte. Die Wohnung war grauenvoll und überladen. Haßte sie diese Umgebung? Sehnte sich nach ihren kargen Steingemächern?
Ich dachte über sie nach, als hätte sie noch endlos zu leben. Ich drehte mich um, sah, wie sie sich an der Fensterbank festhielt. Der Himmel hinter ihr war schwarz geworden, und ein anderes Licht, das Licht der Hauslaternen, der vorbeifahrenden
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