Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
war sie in meinen Armen. Sie wog nichts, aber ich konnte ihre Kraft spüren, ihren festen Griff. Als sie jedoch tief unten die Gasse sah und den Kai jenseits der Mauer, schien sie einen Moment lang zu zögern.
»Leg die Arme um meinen Hals«, sagte ich, »und halt dich gut fest.«
Ich kletterte die Mauersteine hoch, Gabrielle in meinen Armen, bis wir die rutschigen Dachschiefer erreichten. Dann nahm ich sie bei der Hand und zog sie hinter mir her, wobei ich immer schneller rannte, hinweg über Regenrinnen und Schornsteine und im Sprung über schmale Gassen, bis wir das andere Ende der Insel erreicht hatten. Ich war darauf gefaßt, daß sie jeden Moment laut aufschreien oder sich an mich krallen würde, aber sie hatte keine Angst. Sie verhielt sich ganz ruhig, blickte über die Dächer des linken Ufers und auf den Fluß, auf dem es von kleinen, dunklen Booten wimmelte, und im Moment schien sie nur den Wind zu spüren, der ihr Haar entwirrte. Es hätte mir vollauf genügt, sie zu betrachten, alle Züge ihrer Metamorphose zu studieren, wenn ich nicht so sehr von dem Wunsch beseelt gewesen wäre, ihr die ganze Stadt zu zeigen, sie in alles einzuweihen, sie alles zu lehren, was ich wußte.
Unten am Kai raste eine Kutsche entlang. Der Fahrer hatte seine liebe Not, auf dem Kutschbock sein Gleichgewicht zu halten. Ich deutete hinunter und umklammerte ihre Hand. Als die Droschke genau unter uns war, setzten wir zum Sprung an, und geräuschlos landeten wir auf dem lederbezogenen Dach. Der Kutscher drehte sich nicht einmal um. Ich hielt sie fest, stützte sie, bis wir beide Halt gefunden hatten, jederzeit bereit, von dem Gefährt zu springen.
Es war unbeschreiblich aufregend, dieses Abenteuer mit ihr zusammen zu bestehen.
Wir jagten über die Brücke an der Kathedrale vorbei, durch die Menschenmenge auf dem Pont Neuf hindurch. Wieder vernahm ich ihr Gelächter. Den Leuten, die von ihren Fenstern auf uns hinabsahen, müssen wir einen seltsamen Anblick geliefert haben: zwei buntgekleidete Gestalten, die auf einem schwankenden Kutschendach saßen, wie zu Streichen aufgelegte Kinder auf einem Floß.
Die Kutsche bog um eine Ecke. Wir rasten in Richtung St.-Germain-des-Prés, und die Menschen stoben vor uns auseinander, und schon ging es vorbei an dem unerträglichen Gestank des Friedhofs Les Innocents auf das nächste Wohnviertel zu.
Eine Sekunde lang nahm ich einen Schimmer der Anwesenheit wahr, aber so kurz nur, daß ich an mir selbst zweifelte. Ich drehte mich um und konnte nicht das geringste ausmachen. Mit unbeschreiblicher Freude wurde mir plötzlich klar, daß sich Gabrielle und ich über die Anwesenheit unterhalten würden, daß wir über alles zusammen sprechen, alles zusammen in Angriff nehmen würden. Auf ihre Weise war diese Nacht von ebenso umwälzender Bedeutung wie die Nacht, da Magnus mich verwandelt hatte, und diese Nacht hier hatte gerade erst angefangen.
Wir befanden uns jetzt in einer geradezu perfekten Umgebung. Ich nahm Gabrielle wieder bei der Hand und hob sie von der Kutsche auf die Straße.
Wie benommen blickte sie den dahinrasenden Rädern nach. Sie sah nicht gerade gesellschaftsfähig aus, eine Frau, der Zeit und Welt entrissen, mit nichts weiter am Leib als Pantoffeln und einem Kleid, aller irdischen Fesseln ledig und frei, sich in unendliche Höhen zu schwingen.
Wir bogen in eine schmale Gasse und rannten engumschlungen los. Sie ließ ihre Blicke über die Mauern schweifen, über die Reihen geschlossener Fensterläden, durch die Lichtstreifen drangen.
Ich wußte, was sie sah. Ich wußte, welche Geräusche in sie drangen. Aber noch immer konnte ich ihr Inneres nicht erlauschen, und ich hatte ein wenig Sorge, daß sie mich absichtlich ausschloß.
Unterdessen war sie stehengeblieben. Sie wurde von den ersten Todeskrämpfen heimgesucht; ich sah es ihrem Gesicht an. Ich beruhigte sie; »Der Schmerz wird schnell vorbeigehen, er ist nichts im Vergleich zu dem, was du vorher erduldet hast. In ein paar Stunden ist alles überstanden, vielleicht schon eher, wenn wir jetzt trinken.«
Sie nickte, wobei sie mehr Ungeduld als Angst verriet.
Wir gelangten auf einen kleinen Platz. Im Tor einer Villa stand ein junger Mann, den Mantelkragen hochgeschlagen, der offenbar auf jemanden wartete. War sie kräftig genug, sich seiner zu bemächtigen? War sie so kräftig wie ich? Zeit, das herauszufinden.
»Wenn der Durst dich nicht ganz von allein antreibt, dann ist es zu früh«, erklärte ich ihr.
Ich blickte
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