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Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis

Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis

Titel: Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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einer Schere um. Hier war keine; die kleine Goldschere war unten in der Grabkammer zu Boden gefallen. Also zog ich mein Messer hervor.
    Sie schluchzte stumm in ihre Hände.
    »Soll ich es wieder abschneiden?« fragte ich. Sie antwortete nicht. »Gabrielle, hör mir zu.« Ich zog ihre Hände von ihrem Gesicht. »Ich schneide es wieder ab, wenn du willst. Jeden Abend abschneiden und verbrennen. Das ist alles.«
    Sie sah mich so geistesabwesend an, daß ich mir nicht zu helfen wußte. Ihr Gesicht war von den Tränen blutverschmiert, und auch auf ihrer Kleidung war Blut. Die ganze Kleidung voller Blut.
    »Soll ich es abschneiden?« fragte ich erneut.
    Sie sah aus, als hätte sie jemand blutig geschlagen. Die Bluttränen wallten über ihre sanften Wangen. Dann versiegte der Strom, und die Tränen verkrusteten auf ihrer weißen Haut. Ich wischte ihr Gesicht vorsichtig mit meinem Spitzentaschentuch ab. Dann holte ich neue Kleider, die ich mir in Paris hatte schneidern lassen, und die ich im Turm aufbewahrte.
    Ich streifte ihr den Mantel ab. Sie blieb regungslos sitzen, und ich knöpfte ihr Leinenhemd auf. Ich sah ihre Brüste, die bis auf die blaßrosa Brustwarzen makellos weiß waren. Ich bemühte mich, nicht hinzusehen, und zog ihr schnell das frische Hemd an. Dann bürstete ich ihr Haar, bürstete und bürstete es, wollte es nicht mit meinem Messer absäbeln und flocht es zu einem langen Zopf, und darauf legte ich ihr den Mantel um. Ich spürte, wie sie wieder ihre Fassung gewann. Sie schien sich nicht zu schämen. Sie dachte nur nach. Aber sie sagte nichts. Sie rührte sich nicht.
    Und ich redete auf sie ein. »Als ich klein war, hast du mir immer erzählt, wo du überall warst. Du hast mir Bilder von Venedig und Neapel gezeigt, weißt du noch? Diese alten Bücher? Und du hattest kleine Andenken aus London und St. Petersburg, von überall her.« Sie antwortete nicht. »Ich möchte mit dir dahin. Ich möchte das alles sehen, jetzt. Ich möchte das sehen und dort leben. Ja, ich möchte sogar in Gegenden, von denen ich zu Lebzeiten nicht einmal zu träumen wagte.«
    Ihr Gesichtsausdruck änderte sich ein wenig.
    »Wußtest du, daß es zurückwachsen würde?« fragte sie flüsternd.
    »Nein. Das heißt, ja, das heißt, ich hab’ nicht nachgedacht. Ich hätte es wissen müssen.«
    Lange Zeit sah sie mich wieder stumm und apathisch an. »Das alles … jagt es dir niemals … Angst ein?« fragte sie. Ihre Stimme klang fremd. »Gebietet dir nichts … jemals … Einhalt?« fragte sie. Ihr Mund blieb offen, wohlgeformt sah er aus, wie ein Menschenmund.
    »Ich weiß nicht«, flüsterte ich hilflos. »Was meinst du eigentlich?« Ich war völlig verwirrt. Ich schlug ihr wieder vor, es jeden Abend abzuschneiden und zu verbrennen. Ganz einfach. »Ja, verbrenne es«, stöhnte sie. »Sonst verstopft es noch alle Zimmer im Turm, oder? Wie Rapunzels Haar im Märchen. Wie das Gold, das die Müllerstochter aus Stroh spinnen muß im Märchen von dem ekelhaften Rumpelstilzchen.«
    »Wir schreiben uns unsere eigenen Märchen, meine Liebste«, sagte ich. »Keine Macht der Welt kann mehr das zerstören, was du jetzt bist. Du bist eine Göttin.«
    »Und die Göttin ist durstig«, sagte sie.
    Ein paar Stunden später, als wir wie zwei Studenten Arm in Arm durch die Menschentrauben auf den Boulevards spazierten, war alles bereits vergessen. Unsere Gesichter waren knackig, unsere Haut war rot und warm.
    Ich habe meinen Anwalt nicht aufgesucht, und sie wollte von einem Ausflug aufs Land nichts mehr wissen. Wir blieben zusammen. Ab und zu drehten wir uns um, wenn sich in der Ferne die Anwesenheit bemerkbar machte.

5
    Zur dritten Stunde, als wir zu den Mietställen gelangten, wußten wir, daß wir von der Anwesenheit verfolgt wurden.
    Mal hörten wir sie eine halbe oder dreiviertel Stunde lang überhaupt nicht, dann ertönte wieder das dumpfe Summen. Es machte mich verrückt.
    Und obwohl wir uns große Mühe gaben, ein paar klare Gedanken herauszuhören, konnten wir nichts anderes als grollende Bosheit wahrnehmen und gelegentlich ein Getöse, das wie in Feuer geworfenes Laub klang.
    Sie war froh, daß wir nach Hause ritten. Sie fühlte sich von dem Wesen nicht belästigt, sie wollte nur die Ruhe und Weite des Landes genießen.
    Nachdem wir das offene Land erreicht hatten, rasten wir so schnell dahin, daß wir nur noch den Wind hörten, und ich glaube, sie hat wieder aufgelacht, aber da bin ich mir nicht sicher. Sie liebte den Wind so sehr wie ich,

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