Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
Hymnen, der Stunden, da du in der Bibliothek gearbeitet, der Stunden, da du in der Kapelle allein gebetet hast?«
»Ich erinnere mich, natürlich.« Ich spürte, wie mir die Tränen kamen. Ich sah alles genau vor mir, die Klosterbibliothek und die Mönche, die mich in dem Glauben unterrichtet hatten, ich würde dereinst in den Priesterstand treten. Ich sah die kleine, kalte Zelle mit ihrer Pritsche; ich sah das Kloster und den rosa durchschleierten Garten; Gott, ich wollte mich jetzt nicht an diese Zeiten erinnern. Aber es gibt Sachen, die nie der Vergessenheit anheimfallen.
»Erinnerst du dich an den Morgen, da du in die Kapelle gingst«, fuhr sie fort, »und auf dem nackten Marmorboden niederknietest und Gott sagtest, du würdest alles tun, wenn er nur einen guten Menschen aus dir machte?«
»Ja, ein guter Mensch …« Jetzt war es meine Stimme, die leicht verbittert klang.
»Du sagtest, du würdest jedes Martyrium, unsagbare Qualen auf dich nehmen, wenn es dir vergönnt sei, ein guter Mensch zu werden.«
»Ja, ich erinnere mich.« Ich sah die alten Heiligen; ich hörte die Hymnen, die mein Herz bewegt hatten. Ich erinnerte mich des Morgens, als meine Brüder gekommen waren, um mich nach Hause zurückzubringen, und ich sie auf Knien angefleht hatte, mich bleiben zu lassen.
Ich konnte vor Trauer nichts sagen. Ich sah dem fallenden Schnee zu. Ich ergriff ihre Hand und spürte ihre Lippen an meiner Wange.
»Du wurdest für mich geboren, mein Prinz«, sagte sie. »Du wurdest geprüft und vollendet. Und als du später ins Schlafzimmer deiner Mutter gingst, um sie mit dir in die Welt der Untoten zu nehmen, war das nur eine Vorwegnahme deiner eigentlichen Aufgabe, mich zu erwecken. Ich bin deine wahre Mutter, die Mutter, die dich nie verlassen wird. Auch ich bin gestorben und wurde wiedergeboren. Und alle Religionen der Welt, mein Prinz, preisen dich und mich.«
»Wie das?« fragte ich. »Wie kann das sein?«
»Ah, das weißt du doch. Du weißt es! « Sie nahm mir den Degen ab und ließ ihn auf den Rosthaufen fallen - der letzte klägliche Rest meines sterblichen Lebens.
»Entledige dich deiner alten Illusionen«, sagte sie. »Deiner Hemmungen. Die sind jetzt ebenso unnütz wie diese alten Waffen. Gemeinsam werden wir die Mythen dieser Welt verwirklichen.«
Ein Schauder durchfuhr mich, ein dunkler Schauder des Unglaubens und der Verwirrung; aber ihre Schönheit beruhigte mich gleich wieder.
»Du wolltest ein Heiliger sein, als du da in der Kapelle knietest«, sagte sie. »Mit mir wirst du nun ein Gott sein.«
Ich war nahe daran, ihr zu widersprechen. Ich hatte Angst; eine dunkle Ahnung überkam mich. Was sollten ihre Worte bloß bedeuten?
Aber schon legte sie ihren Arm um mich, und durch das zerborstene Dach entschwebten wir dem Turm. Ein schneidend scharfer Wind umfing uns, und ich wandte mich ihr zu. Mein rechter Arm legte sich um ihre Hüfte, und ich bettete meinen Kopf an ihre Schulter.
Mit sanfter Stimme forderte sie mich auf zu schlafen. Erst in Stunden würde die Sonne über jenem Land aufgehen, dem wir entgegenstrebten, der Stätte meiner ersten Unterrichtsstunde.
Unterrichtsstunde. Plötzlich weinte ich wieder. Klammerte mich an sie, weinte, weil ich verloren war und weil es außer ihr nichts gab, an das ich mich hätte klammern können. Und Entsetzen beschlich mich bei dem Gedanken, was sie von mir verlangen würde.
2
Marius: Vereinigung
Sie trafen sich wieder am Rande des Rotholzwaldes, ihre Kleider zerlumpt, ihre Augen tränend vom Wind. Pandora stand rechts von Marius, Santino links von ihm. Und von dem Haus am anderen Ende der Lichtung kam ihnen Mael entgegengesprungen.
Wortlos umarmte er Marius.
»Alter Freund«, sagte Marius, aber seine Stimme war leblos. Erschöpft sah er an Mael vorbei und richtete den Blick auf die erleuchteten Fenster des Hauses. Er spürte, daß sich hinter dem sichtbaren Gebäude mit seinem Giebeldach noch ein riesiger Wohnsitz in den Berg erstreckte.
Und was erwartete ihn da? Was erwartete sie alle? Er hatte keine Ahnung, und er sehnte sich danach, wenigstens eines winzigen Teils seiner Seele wieder habhaft werden zu können.
»Ich bin müde«, wandte er sich an Mael. »Mir ist von der Reise noch ganz schlecht. Laß mich hier ein wenig ausruhen. Ich komme später nach.« Im Gegensatz zu Pandora hatte er nichts gegen die Fähigkeit zu fliegen, dennoch laugte es ihn regelmäßig aus. In dieser Nacht der Nächte war es besonders schlimm gewesen, und jetzt
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