Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
auch die Geschichte unseres Endes.« Sie stöhnte plötzlich auf bei dem Gedanken. »Unsere Welt war nie derartig in Aufruhr gewesen«, sagte sie und sah Marius an. »Lestats Musik, die Auferstehung Der Mutter, der Tod ringsum.«
Sie sah kurz nieder, um Kraft zu sammeln. Und dann warf sie Khayman und Jesse, den beiden, die sie am meisten liebte, einen Blick zu.
»Ich habe das noch nie zuvor erzählt«, sagte sie, als würde sie um Nachsicht bitten. »Jetzt kommt mir das wie die reinste Mythologie vor - jene Zeiten, da ich lebendig war. Als ich noch die Sonne sehen konnte. Aber in dieser Mythologie wurzelt all die Wahrheit, die ich weiß. Und wenn wir zurückblicken, könnten wir die Zukunft finden und die Mittel, sie zu ändern. Zumindest können wir uns bemühen zu verstehen, zu lernen.«
Respektvolles, geduldiges Schweigen.
»Am Anfang«, sagte sie, »waren wir Hexen, meine Schwester und ich. Wir sprachen zu den Geistern, und die Geister liebten uns. Bis sie ihre Soldaten in unser Land sandte.«
3
Lestat: Die Himmelskönigin
Sie ließ mich aus. Sofort stürzte ich nieder; der Wind brüllte in meinen Ohren. Aber am schlimmsten war, daß ich nichts sehen konnte! Ich hörte, wie sie sagte: Steig empor.
Einen Moment lang war ich vollkommen hilflos. Unaufhaltsam raste ich der Erde entgegen, dann blickte ich hoch; meine Augen schmerzten, die Wolken schlössen sich über mir zusammen, und ich erinnerte mich an den Turm, das Gefühl des Emporsteigens. Nur schnell die Entscheidung. Nach oben! Und mein Höllensturz hörte augenblicklich auf.
Es war, als hätte mich ein Luftstrudel umfangen. In Sekundenschnelle trieb ich Hunderte von Metern nach oben, und dann waren die Wolken unter mir. Ich ließ mich treiben, ziellos. Vielleicht hätte ich die Augen ganz aufmachen und durch den Wind blicken können, aber ich hatte Angst vor den Schmerzen.
Irgendwo ertönte ihr Gelächter - in meinem Kopf oder über mir, ich wußte es nicht. Komm, mein Prinz, noch höher.
Ich wirbelte herum und schoß empor, bis ich sie mir entgegenschweben sah, die Kleider und Zöpfe flatternd im Wind.
Sie umfing und küßte mich. Ich versuchte, Halt zu gewinnen, hielt mich an ihr fest, um hinunterzublicken und etwas durch die Wolkenrisse sehen zu können. Schneebedeckte Berge in blauem Mondlicht, die sich in weiten Tälern verloren.
»Heb mich jetzt hoch«, flüsterte sie in mein Ohr. »Trage mich gen Nordwesten.«
»Ich weiß die Richtung nicht.« »Aber doch. Der Körper weiß es. Deine Seele weiß es. Frage sie nicht nach dem Weg. Sag ihnen, wohin du willst. Du kennst die Regeln. Als du dein Gewehr angelegt hast, hast du auf den glühenden Wolf geblickt; du hast weder die Entfernung noch die Geschwindigkeit der Patrone ausgerechnet; du hast gefeuert, und der Wolf ging nieder.« Wieder stieg ich mit derselben unglaublichen Schwungkraft höher, und dann bemerkte ich, daß sie mir schwer im Arm lag. Ihre Augen waren auf mich gerichtet; sie hatte es darauf angelegt, daß ich sie trug. Ich lächelte. Ich glaube, ich lachte laut auf. Ich zog sie näher heran und küßte sie und schwebte ohne Unterbrechung weiter empor. Gen Nordwesten. Das hieß, weiter nach rechts und noch einmal nach rechts und höher hinauf.
Ich wußte, welchen Gefilden wir entgegensteuerten. Ich drehte mich um mich selbst, hielt sie fest am mich gedrückt, mochte das Gefühl, wie sich ihre Brüste gegen mich preßten und wie sich ihre Lippen zärtlich über den meinen schlössen.
Sie legte ihren Kopf an mein Ohr. »Hörst du es?« fragte sie.
Ich lauschte. Der Wind war mörderisch, doch von der Erde drang ein dumpfer Chor; singende Menschenstimmen, einige unisono, andere vereinzelt dazwischen; Stimmen, die laut in einer asiatischen Sprache beteten. Aus weiter Feme konnte ich sie hören und dann ganz aus der Nähe. Es war wichtig, die beiden Geräusche zu unterscheiden. Einmal war da ein langer Zug Gläubiger, die über Pfade und Klippen einen Berg erklommen und sangen, um sich am Leben zu erhalten, während sie sich trotz der Müdigkeit und der Kälte mühsam weiterschleppten. Und zugleich ertönte im Inneren eines Gebäudes ein lauter, ekstatischer Chor, der ungestüm zu den Klängen von Zimbeln und Trommeln sang.
Ich blickte nieder, aber die Wolken hatten sich zu einer undurchdringlichen weißen Decke vereint. Doch durch die Seelen der Gläubigen wurde mir der betörende Anblick eines Hofes gewährt und eines Tempels mit Marmorbögen und großen, bemalten Räumen. Der
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