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Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten

Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten

Titel: Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Sehen war das, was wir als Hexen taten: Wir sahen in Herzen hinein, wir sahen in die Zukunft, wir sahen in die Vergangenheit. >Seher< war das Wort für uns in unserer Sprache; das ist es, was >Hexe< bedeutete.
    Aber was wir besprachen, war hauptsächlich eine Förmlichkeit; wir glaubten, daß der Geist unserer Mutter aufgestiegen war. Wir verzehrten diese Organe aus Achtung vor ihr, damit sie nicht verwesten. Also konnten wir uns leicht einigen: Mekare würde das Hirn und die Augen nehmen, und ich das Herz. Mekare war die stärkere Hexe, die Erstgeborene und die, die immer die Initiative ergriff, die kein Blatt vor den Mund nahm, die die Rolle der älteren Schwester spielte, wie es einer von zwei Zwillingen immer tut. Es schien uns richtig, daß sie das Hirn und die Augen haben sollte und ich, die stets von ruhigerer Veranlagung und bedächtiger gewesen war, das Organ, das mit tiefen Gefühlen und Liebe in Verbindung gebracht wurde - das Herz.
    Wir waren mit der Aufteilung zufrieden, und als der Morgenhimmel sich aufhellte, legten wir uns ein paar Stunden schlafen, denn unsere Körper waren vom Hunger und vom Fasten, mit dem wir uns auf den Leichenschmaus vorbereiteten, geschwächt.
    Irgendwann vor Tagesanbruch weckten uns die Geister. Sie ließen den Sturm wieder aufkommen. Ich ging vor die Höhle; das Feuer leuchtete im Ofen. Die Dorfbewohner, die Wache halten sollten, schliefen. Ärgerlich gebot ich den Geistern, still zu sein. Doch einer von ihnen, der, den ich am liebsten hatte, sagte, daß sich Fremde auf dem Berg eingefunden hätten, viele, viele Fremde, die von unseren Fähigkeiten höchst beeindruckt und bedenklich neugierig auf den Leichenschmaus waren. >Diese Leute wollen etwas von dir und Mekare<, sagte der Geist. >Und diese Leute bedeuten nichts Gutes. <
    Ich sagte ihm, daß hierher immer Fremde kämen; daß das nichts zu bedeuten habe und er nun still sein müsse und uns das tun lassen solle, was wir tun mußten. Doch dann ging ich zu einem der Männer aus dem Dorf und bat, das Dorf möge darauf vorbereitet sein, daß es eventuell Ärger geben könnte, und die Männer sollten ihre Waffen bei sich tragen, wenn sie sich zum Leichenschmaus versammelten.
    Aber sehr besorgt war ich nicht wegen dieser Dinge; schließlich kamen Fremde von überall her in unser Dorf, und es war ganz natürlich, daß sie anläßlich dieses besonderen Ereignisses - des Todes einer Hexe - kamen.
    Doch ihr wißt, was geschehen sollte. Ihr habt es in euren Träumen gesehen. Ihr habt gesehen, wie die Dorfbewohner sich um die Lichtung versammelten, als die Sonne ihren hohen Mittagsstand erreichte. Vielleicht habt ihr gesehen, wie die Steine des sich abkühlenden Ofens langsam entfernt wurden, oder auch nur, wie der Leib unserer Mutter, dunkel, geschrumpft, doch friedlich wie im Schlaf, auf der warmen Steinplatte aufgedeckt wurde. Ihr habt die verwelkten Blumen gesehen, die sie bedeckten, und das Herz und das Hirn und die Augen auf den Tellern.
    Ihr saht uns zu beiden Seiten des Körpers unserer Mutter niederknien. Und ihr hörtet die Musiker zu spielen beginnen.
    Was ihr nicht sehen konntet, aber jetzt wißt, ist, daß unser Volk sich seit Tausenden von Jahren zu solchen Feiern versammelt hatte. Seit Tausenden von Jahren hatten wir in diesem Tal und an den Hängen des Berges gelebt, wo hohes Gras wuchs und die Früchte von den Bäumen fielen. Dies war unser Land, unsere Überlieferung, unsere Aufgabe.
    Unsere heilige Aufgabe.
    Und als Mekare und ich, in unsere feinsten Gewänder gekleidet und geschmückt mit dem Geschmeide unserer Mutter wie auch mit unserem eigenen, einander gegenüberknieten, sahen wir nicht die Warnungen der Geister vor uns und auch nicht den Kummer unserer Mutter, als sie die Schreibtafel des Königs und der Königin von Kernet berührt hatte. Wir sahen unser Leben, hoffnungsvoll, lang und glücklich hier unter den Unsrigen.
    Ich weiß nicht, wie lange wir da knieten, wie lange wir unsere Seelen vorbereiteten. Ich erinnere mich, daß wir endlich gleichzeitig die Teller aufhoben, auf denen die Organe unserer Mutter lagen, und daß die Musiker zu spielen begannen. Die Töne der Flöte und der Trommel vibrierten in der Luft um uns herum, und wir konnten das leise Atmen der Dorfbewohner hören und den Gesang der Vögel.
    Und dann kam das Unheil über uns, kam so plötzlich mit trampelnden Füßen und lautem, schrillem Kriegsgeschrei der ägyptischen Soldaten, daß wir kaum begriffen, was geschah. Wir warfen uns über

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