Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
und falls er weinte, blies der Wind seine Tränen fort. Jedwede Angst, die er verspürt haben mochte, war jetzt ganz und gar verflogen; er war überwältigt, als er aufwärts blickte, wo die Himmelskuppel uns umgab und der Mond voll auf die sich unendlich ausbreitende weiße Ebene unter uns schien.
Und während wir dahinflogen, erinnerte ich mich an so viele Dinge; zum Beispiel daran, wie ich ihn das erste Mal getroffen hatte in einer Kneipe in New Orleans. Er war betrunken und streitsüchtig gewesen, und ich war ihm hinaus in die Nacht gefolgt. Und im letzten Augenblick, bevor ich ihn durch meine Hände zu Boden sinken ließ, hatte er seine Augen geschlossen und gefragt:
»Aber wer bist du?«
Ich hatte gewußt, daß ich bei Sonnenuntergang zu ihm zurückkommen würde, daß ich ihn finden würde, und wenn ich die ganze Stadt nach ihm absuchen müßte, obwohl ich ihn halb tot auf dem Kopfsteinpflaster hatte liegenlassen. Ich mußte ihn haben, ich mußte. Genauso, wie ich alles haben mußte, was ich wollte, oder alles tun mußte, was ich je tun wollte.
Das war das Problem, und nichts, was Akascha mir gegeben hatte - nicht Leiden, nicht Macht und auch nicht die Schreckensherrschaft -, hatte daran auch nur das geringste geändert.
Vier Meilen von London entfernt.
Eine Stunde nach Sonnenuntergang. Wir lagen zusammen im Gras, in der kalten Dunkelheit unter einer Eiche. Von dem riesigen Herrenhaus in der Mitte des Parks kam ein wenig Licht, aber nicht viel. Die kleinen, tief eingelassenen, bleigefaßten Fenster schienen eigens so geplant, alles Licht im Haus zu halten. Gemütlich war es da drinnen, einladend, mit all den Bücherregalen an den Wänden und den lodernden Flammen in den vielen Kaminen, deren Rauch durch die Schornsteine in die neblige Dunkelheit aufstieg.
Hin und wieder fuhr ein Auto auf der kurvenreichen Straße vor den Eingangstoren vorbei, und die Scheinwerfer streiften die prächtige Fassade des alten Gebäudes und zeigten die Wasserspeier und die schweren Bögen über den Fenstern und die glänzenden Türklopfer an den massiven Haustüren.
Ich hatte diese alten europäischen Wohnsitze immer geliebt, die wie Landschaften waren; kein Wunder, daß sie die Geister der Toten einladen, zurückzukommen.
Louis setzte sich plötzlich auf, sah an sich herunter und bürstete dann hastig das Gras von seiner Jacke. »Wo sind wir?« flüsterte er leicht beunruhigt.
»Der Stammsitz der Talamasca, nahe London«, sagte ich. Ich lag da und stützte den Kopf auf die Hände. Im Dachgeschoß brannte Licht; in den großen Räumen im ersten Stock brannte Licht. Ich überlegte, welcher Weg am meisten Spaß bereiten würde.
»Was wollen wir hier?«
»Abenteuer, das habe ich doch gesagt.«
»Einen Moment; du willst doch nicht da hineingehen, oder?«
»Warum nicht? Sie haben da drinnen im Keller Claudias Tagebuch und Marius’ Gemälde. Das weißt du doch alles, oder nicht? Jesse hat es dir erzählt.«
»Und was hast du vor? Einbrechen und im Keller herumwühlen», bis du findest, was du suchst?«
Ich lachte. »Nein, das würde nicht sehr lustig sein, oder? Klingt eher nach langweiliger Arbeit. Außerdem geht es mir nicht wirklich um das Tagebuch. Sie können das Tagebuch behalten. Es gehörte Claudia. Ich will mit einem von ihnen reden - mit David Talbot, dem Chef. Sie sind, mußt du wissen, die einzigen Sterblichen auf der Welt, die wirklich an uns glauben.«
Stechender Schmerz in mir. Nicht beachten. Der Spaß geht los.
Im Augenblick war Louis zu entsetzt, um zu antworten. Es war noch köstlicher, als ich mir hatte träumen lassen.
»Aber das kann nicht dein Ernst sein«, sagte er.
Er wurde mächtig ungehalten. »Lestat, laß diese Leute in Frieden. Sie glauben, daß Jesse tot ist. Sie haben einen Brief von irgendeinem Familienmitglied erhalten.«
»Ja, natürlich. Deshalb werde ich sie auch nicht eines Besseren belehren. Warum sollte ich? Aber der, der zum Konzert gekommen ist - David Talbot, der Ältere -, fasziniert mich. Ich glaube, ich möchte wissen … Aber was rede ich. Es ist Zeit, hineinzugehen und es herauszufinden.«
» Lestat!«
»Louis!« sagte ich, seinen Tonfall nachäffend. Ich stand auf und half ihm hoch, nicht, weil es nötig gewesen wäre, sondern weil er dasaß und mich finster ansah und mir Widerstand leistete und überlegte, wie er mich umstimmen konnte, was alles reine Zeitverschwendung war.
»Lestat, Marius wird wütend werden, wenn du das tust!« sagte er ernsthaft, und sein
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