Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
tot.« Ich hielt seinem Blick stand; es gab kein Mißverständnis. »Vergessen Sie Jesse«, sagte ich.
Er nickte schwach. Seine Augen schweiften für einen Moment ab, und dann sah er mich wieder an, noch neugieriger als zuvor.
Ich lief mitten im Zimmer in einem kleinen Kreis. Ich sah Louis hinten im Schatten, wie er am Schlafzimmerkamin stand und mich voller Verachtung und Mißbilligung beobachtete. Doch jetzt war nicht die Zeit zu lachen. Mir war überhaupt nicht nach Lachen zumute. Ich dachte an etwas, das Khayman mir erzählt hatte.
»Ich möchte Ihnen jetzt eine Frage stellen«, sagte ich.
»Ja, bitte.«
»Ich bin hier. Unter Ihrem Dach. Angenommen, die Sonne geht auf, und ich begebe mich in Ihren Keller. Ich falle da in Bewußtlosigkeit. Sie verstehen.« Ich machte eine lässige Handbewegung. »Was würden Sie tun? Würden Sie mich im Schlaf töten?«
Er dachte weniger als zwei Sekunden nach.
»Nein.«
»Aber Sie wissen, was ich bin. Sie haben nicht den leisesten Zweifel, oder? Warum also nicht?«
»Es gibt viele Gründe«, sagte er. »Ich würde gern mehr über Sie wissen. Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten. Nein, ich würde Sie nicht töten. Nichts könnte mich dazu bewegen.«
Ich musterte ihn; er sprach die reine Wahrheit. Er ließ sich nicht weiter darüber aus, aber er würde es für schrecklich gefühllos und unhöflich gehalten haben, mich zu töten, ein so geheimnisvolles und altes Wesen wie mich zu töten. »Ja, genau«, sagte er mit einem schwachen Lächeln.
Gedankenleser. Aber nicht sehr fähig. Nur die offenen Gedanken.
»Seien Sie da nicht so sicher.« Auch das wurde wieder mit bemerkenswerter Höflichkeit vorgebracht. »Eine zweite Frage an Sie«, sagte ich.
»Bitte sehr!« Er war jetzt wirklich interessiert. Die Angst war total verflogen. »Wünschen Sie sich die Zauber der Finsternis? Sie verstehen. Einer von uns zu werden.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Louis den Kopf schüttelte. Dann drehte er sich um. »Ich sage nicht, daß ich sie Ihnen jemals geben würde. Sehr wahrscheinlich würde ich es nicht tun. Aber wollen Sie sie? Wenn ich dazu bereit wäre, würden Sie ihn von mir annehmen?«
»Nein.«
»Ach, kommen Sie!« »Nicht in einer Million Jahren würde ich sie annehmen. Nein, und Gott ist mein Zeuge.«
»Sie glauben nicht an Gott, das wissen Sie doch.«
»Nur eine Redensart. Aber die Aussage stimmt.«
Ich lächelte. Solch ein freundliches, waches Gesicht. Und ich war so angeregt; das Blut strömte mit neuer Kraft durch meine Adern; ich fragte mich, ob er das spüren konnte: Sah ich nach weniger als einem Ungeheuer aus? Gab es all jene kleinen Anzeichen von Menschlichkeit, die ich an anderen von unserer Art beobachtete, wenn sie gut gelaunt oder in Gedanken versunken waren?
»Ich glaube nicht, daß es eine Million Jahre dauert, bis Sie Ihre Meinung ändern«, sagte ich. »Sie haben in Wirklichkeit überhaupt nicht sehr viel Zeit. Wenn Sie mal darüber nachdenken.«
»Ich werde meine Meinung nie ändern«, sagte er. Er lächelte sehr offen. Er hielt seinen Füllhalter mit beiden Händen. Und er spielte damit, unbewußt und eine Sekunde lang besorgt, aber dann war er ruhig.
»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte ich. Ich sah mich im Zimmer um; sah das kleine holländische Gemälde in seinem lackierten Rahmen: ein Haus in Amsterdam an einem Kanal. Ich sah auf den Reif an den bleigefaßten Fenstern. Von der Nacht draußen war überhaupt nichts zu sehen. Ich war plötzlich traurig; nur war es nicht so schlimm wie vorher. Es war nur ein Eingeständnis der bitteren Einsamkeit, die mich hierhergebracht hatte, des Bedürfnisses, mit dem ich hierhergekommen war, in seinem kleinen Zimmer zu stehen und seine Blicke auf mir zu spüren; ihn sagen zu hören, daß er wußte, wer ich war.
Mir wurde schwarz vor Augen. Ich konnte nicht sprechen.
»Ja«, sagte Talbot in schüchternem Ton hinter mir. »Ich weiß, wer Sie sind.« Ich drehte mich um und sah ihn an. Es schien, als würde ich gleich zu weinen anfangen. Weinen wegen der Wärme hier und der Witterung menschlicher Wesen, wegen des Anblicks eines lebenden Menschen, der vor einem Schreibtisch stand. Ich schluckte. Ich wollte nicht die Fassung verlieren; das wäre dumm gewesen.
»Es ist wirklich interessant«, sagte ich. »Sie wollen mich nicht töten. Aber Sie wollen auch nicht werden, was ich bin.«
»Das stimmt.«
»Nein. Ich glaube Ihnen nicht«, sagte ich wieder.
Ein schwacher Schatten überzog sein Gesicht, ein
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