Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
Pompeji entfernt, hatte er lesend und schreibend seine Stunden zugebracht. Er versuchte herauszufinden, inwiefern sein kurzer Blick in die Welt des Übernatürlichen sein Leben beeinflußt hatte. Er mußte wieder lernen, eigene Wünsche, Vorstellungen und Träume zu haben. Unsterblichkeit war auf dieser Erde in der Tat möglich. Das wußte er ohne allen Zweifel, aber was nutzte das schon, wenn ihm die Unsterblichkeit vorenthalten wurde?
Tagsüber durchstreifte er die geborstenen Straßen der ausgegrabenen römischen Stadt. Und bei Vollmond durchwanderte er sie auch nachts, alleine. Offenbar verfügte er wieder über seinen gesunden Menschenverstand. Und bald würde ihn auch das Leben wiederhaben. Die grünen Blätter rochen frisch, wenn er sie zwischen seinen Fingern zerrieb, und wenn er zu den Sternen aufblickte, fühlte er sich eher traurig als aufgewühlt.
Dann wieder verzehrte er sich nach Armand wie nach einem Zaubertrank, ohne den er nicht sein konnte.
Die dunkle Kraft, die ihn vier Jahre lang angetrieben hatte, fehlte ihm jetzt. In seinen Träumen war Armand bei ihm, und wenn er dann erwachte, heulte er wie ein kleines Kind. Erst im Morgendämmer beruhigte er sich; dann war er nur noch traurig.
Und plötzlich kehrte Armand zurück.
Es war schon spät, zehn Uhr abends vielleicht, und der Himmel leuchtete dunkelblau wie so oft in Süditalien. Daniel ging ganz alleine die Straße entlang, die von Pompeji direkt zur Mysterien-Villa führt.
Er hoffte, daß keine Wächter auftauchen und ihn vertreiben würden, und als er das Haus erreichte, war es in einen Mantel vollkommener Stille eingehüllt. Keine Wachtposten weit und breit. Keine Menschenseele. Nur Armand tauchte plötzlich und stumm vor dem Eingang auf. Armand war wieder da.
Lautlos war er aus dem Schatten ins Mondlicht getreten, ein Jüngling in schmutzigen Jeans und abgewetztem Overall, und er legte seinen Arm um Daniel und küßte sein Gesicht. Welch warme Haut, durchpulst vom Blut des letzten Opfers. Daniel glaubte, es riechen zu können, diesen Duft der Lebenden, der Armand noch anhaftete.
»Möchtest du in das Haus hinein?« flüsterte Armand. Schlösser und Riegel hatten Armand noch nie beeindruckt. Daniel zitterte am ganzen Körper; beinahe wäre er in Tränen ausgebrochen. Und warum? Ach, einfach weil er Armand wiedersehen und berühren, ihn zur Hölle wünschen konnte!
Sie betraten die dunklen, niedrigen Räume, und Daniel tat es seltsam wohl, Armands Arm um seine Hüfte zu spüren. Du, mein heimlicher…
Heimlicher Liebhaber.
Ja.
Sie standen zusammen in dem halbverfallenen Speisesaal mit seinen berühmten Wandmalereien ritueller Geißelungen, die in dieser Dunkelheit allerdings kaum zu sehen waren. Und da wußte Daniel auf einmal: er wird mich doch nicht töten. Nein, bestimmt nicht. Natürlich wird er mich auch nicht zu seinesgleichen machen, aber wenigstens wird er mich nicht töten. Das wird nicht das Ende vom Lied sein.
»Aber wie konntest du jemals daran zweifeln?« sagte Armand, seine Gedanken lesend. »Ich liebe dich. Wenn ich nicht im Lauf der Zeit in Liebe zu dir entbrannt wäre, hätte ich dich schon längst getötet.«
Das Licht des Mondes spülte durch das hölzerne Gitterwerk. Die Figuren der Wandmalereien gewannen an Leben auf ihrem roten Hintergrund, der von der Farbe getrockneten Blutes war.
Daniel musterte das Wesen vor ihm, das so menschlich aussah, so menschlich klang und doch alles andere als menschlich war. Es war, als würde ein Vorhang in seinem Bewußtsein zerreißen; dieses Wesen kam ihm wie ein riesiges Insekt vor, das eine Million menschlicher Leben verschlungen hatte, und dennoch liebte er es. Er liebte seine weiche weiße Haut, seine großen dunkelbraunen Augen. Er liebte es nicht, weil es wie ein freundlicher, zuvorkommender junger Mann aussah, sondern weil es abscheulich, schrecklich und widerlich war und zugleich doch schön. Er liebte es, wie die Menschen das Böse lieben, weil es sie bis ins Innerste ihrer Seele erregt. Das mußte man sich einmal vorstellen, einfach töten, jederzeit ein Leben auslöschen, wenn einem danach war, einfach so seine Zähne in einen anderen senken und diesen dann bis auf den letzten Rest von Angstschweiß und Blut auskosten. Kein Wunder, daß diese Wesen nach Salz und Blut rochen.
Das war das Böse. Genau das will ich, und darum kam ich seinen Anblick nicht ertragen.
Armands Lippen kräuselten sich zu einem kaum merklichen Lächeln, und dann trübte sich sein Blick, und
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