Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
die auf den Namen Petralona hörten und in ihrer Villa auf Santorin lebten, reiche und exotisch aussehende Griechen. Sie lebten, von Dienern umgeben, in feudalem Luxus und hatten Jesse ganz spontan zu einer Reise auf ihrer Jacht nach Istanbul, Alexandria und Kreta eingeladen.
Um ein Haar hätte sich Jesse in den jungen Constantin Petralona verliebt. Maharet ließ sie wissen, daß eine Heirat von allen begrüßt werden würde, aber freilich müsse sie ihre eigenen Entscheidungen fällen. Jesse gab ihrem Liebhaber einen Abschiedskuß und flog zurück nach Amerika, zur Universität und um ihre erste archäologische Ausgrabung im Irak vorzubereiten.
Aber selbst während der College-Jahre riß die Verbindung zu der Familie niemals ab. Alle waren gut zu ihr. Allerdings war innerhalb des Clans jeder zu jedem gut. Jeder hielt große Stücke auf die Familie. Pausenlos besuchten sich die verschiedenen Familienzweige gegenseitig; pausenlos heirateten sie untereinander, was zu endlosen Verwirrungen führte; jede Familie hielt ständig ein paar Räume frei, falls plötzlich Verwandtschaft auftauchte. Die Stammbäume schienen bis in die Steinzeit zurückzureichen; man erzählte sich lustige Geschichten über berühmte Verwandte, die bereits drei- oder vierhundert Jahre tot waren. Jesse fühlte sich diesen Menschen wirklich zugehörig, egal wie verschiedenartig sie auch waren.
Aber wer war diese Frau Maharet, die immer Jesses ferne, doch aufmerksame Mentorin gewesen war, die ihre Studien häufig mit brieflichen Ratschlägen begleitete, die sie so umsichtig geleitete und nach der sie sich heimlich sehnte?
Von allen Verwandten, die Jesse jemals besuchte, war Maharet die eindrucksvollste, obwohl sie sie nie gesehen hatte. Maharet führte das Protokoll der Großen Familie, das heißt, all der Zweige, die unter verschiedenen Namen über die Welt verstreut waren. Sie war es, die die Verwandtschaft zusammenbrachte, sogar Heiraten arrangierte, um die verschiedenen Familienzweige zusammenzubringen, sie war es, auf deren Hilfe man in Zeiten der Not zuverlässig zählen konnte, Hilfe, die zuweilen zwischen Leben und Tod entschied.
Und vor Maharet war es deren Mutter gewesen, die man jetzt die Alte Maharet nannte, und davor die Großmutter Maharet und so weiter und so fort, so weit das Gedächtnis zurückreichte. »Es wird immer eine Maharet geben«, lautete ein altes Familiensprichwort, das auf italienisch und deutsch oder russisch oder jiddisch oder griechisch heruntergerasselt wurde. In jeder Generation gab es eine Nachfahrin dieses Namens, die das Protokoll führen mußte, so schien es wenigstens, denn niemand außer der jeweiligen Maharet war mit all diesen Einzelheiten vertraut.
»Wann werde ich Dich richtig kennenlernen?« hatte ihr Jesse oft in all diesen Jahren geschrieben. Sie hatte die Briefmarken all der Kuverts aus Delhi und Rio gesammelt, aus Mexiko-Stadt, aus Bangkok und Tokio und Lima und Saigon und Moskau.
Die ganze Familie war dieser Frau ergeben und fasziniert von ihr, aber zwischen Jesse und ihr bestand eine ganz besondere und geheimnisvolle Beziehung. Denn von frühester Kindheit an hatte Jesse, im Gegensatz zu den Leuten ihrer unmittelbaren Umgebung, »ungewöhnliche« Erfahrungen gemacht.
So konnte Jesse etwa auf nebelhafte Weise Gedanken lesen. Sie »wußte«, wenn jemand sie nicht mochte oder sie anlog. Sie verfügte über eine außergewöhnliche Sprachbegabung, da sie häufig den »Kern« verstand, selbst wenn ihr die einzelnen Wörter unbekannt waren. Und sie sah Geister - Menschen und Gebäude, die ummöglich an dieser Stelle sein konnten.
Als sie noch sehr klein war, sah sie oft von ihrem Fenster in Manhattan aus auf der gegenüberliegenden Seite den undeutlichen grauen Umriß eines eleganten Reihenhauses. Sie wußte, daß es in Wirklichkeit nicht existierte, und sie mußte anfangs darüber lachen, wie es immer wieder auftauchte und verschwand, manchmal durchsichtig, manchmal fest und klotzig mit Lichtern hinter den verhangenen Fenstern. Jahre vergingen, ehe sie erfahren hatte, daß das Phantomhaus einst dem Architekten Stanfort White gehört hatte. Es war schon vor Jahrzehnten abgerissen worden.
Die menschlichen Verkörperungen, die sie sah, waren nicht von Anfang an derart ausgeprägt. Vielmehr handelte es sich um kurz aufflackernde Erscheinungen, die oft ein schwer erklärliches Unbehagen auslösten.
Aber mit zunehmendem Alter wurden diese Geister sichtbarer, dauerhafter. An einem trüben,
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