Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
vermutlich erfroren sein, aber das machte nichts. Sie liebte die kalte Luft auf ihrem Gesicht, sie liebte es, schnell zu fahren.
Die Straße tauchte sofort in die Schwärze der Wälder. Nicht einmal der aufgehende Mond konnte hierher durchdringen. Sie beschleunigte auf sechzig, nahm ohne Schwierigkeiten die plötzlich auftauchenden Kurven. Auf einmal wurde sie noch trauriger, aber der Tränenfluß war versiegt. Der Vampir Lestat… Sie war beinahe schon am Ziel.
Als sie endlich die Landstraße erreichte, beschleunigte sie das Tempo, sang sich etwas vor, das sie in dem Fahrtwind kaum zu hören vermochte. Vollkommen dunkel wurde es erst, als sie durch die hübsche kleine Stadt Santa Rosa fuhr und sich in den zügigen Verkehrsstrom auf dem Highway 101 einfädelte.
Küstennebel stieg auf und verwandelte die dunklen Hügel in Geisterwesen. Aber der helle Strom der Schlußlichter vor ihr wies ihr den Weg. Sie wurde immer aufgeregter. Noch eine Stunde bis zur Golden Gate. Sie war nicht mehr traurig. Ihr ganzes Leben lang hatte sie immer auf ihr Glück gesetzt, und manchmal war sie ungeduldig gegenüber Leuten gewesen, die zögerlicher als sie selbst waren. Und obwohl sie genau um die Gefahren wußte, denen sie entgegenstrebte, hatte sie das Gefühl, daß das Glück wieder auf ihrer Seite war. Richtig Angst hatte sie eigentlich nicht. Sie hatte im Grunde schon bei ihrer Geburt Glück gehabt, als sie am Straßenrand aufgefunden wurde, wenige Minuten nur nach dem Autounfall, der ihre im siebten Monat schwangere Teenagermutter getötet hatte - ein Baby, das sofort aus dem sterbenden Schoß gerettet wurde und das seine Lungen vernehmlich freischrie, als der Krankenwagen eintraf.
Zwei Wochen lang blieb sie namenlos, während sie unter den sterilen, kalten Maschinen des Hospitals dahinlebte; aber die Krankenschwestern beteten sie an, gaben ihr den Spitznamen »der Spatz« und knuddelten sie und sangen ihr Lieder vor, wann immer sie Zeit dazu fanden.
Jahre später schrieben sie ihr, legten Schnappschüsse bei, die sie aufgenommen hatten, erzählten ihre kleine Geschichten, was ihr alles das Gefühl gab, schon früh geliebt worden zu sein.
Es war Maharet, die sich schließlich meldete, sie als einzige überlebende der Reeves-Familie aus South Carolina identifizierte und sie mit nach New York nahm, wo sie bei entfernten Verwandten eines anderen Namens und anderer Herkunft lebte. Dort wuchs sie in einer fürstlichen Maisonettewohnung an der Lexington Avenue bei Maria und Matthew Godwin heran, die ihr nicht nur Liebe schenkten, sondern alles, was ihr Herz begehrte. Ein englisches Kindermädchen hatte mit Jesse im selben Zimmer geschlafen, bis sie zwölf Jahre alt war.
Sie wußte nicht mehr, wann sie erfuhr, daß ihre Tante Maharet vorgesorgt hatte, so daß sie jedes beliebige College besuchen konnte, um einen Beruf ihrer Wahl zu erlernen. Matthew Godwin war Arzt. Maria war eine Gelegenheitstänzerin und lehrerin. Sie liebten Jesse mit ganzem Herzen; sie war die Tochter, die sie sich immer gewünscht hatten. Und es waren erfüllte und glückliche Jahre gewesen.
Maharet schickte ihr Briefe, noch ehe sie lesen konnte. Diese Briefe waren wunderbar, oft lagen bunte Postkarten und seltsame Geldscheine aus den Ländern bei, in denen Maharet lebte. Als Jesse siebzehn war, hatte sie eine ganze Schublade voller Rupien und Lire. Aber was noch wichtiger war, sie hatte in Maharet eine Freundin gefunden, die jede Zeile, die sie schrieb, mit Anteilnahme beantwortete.
Es war Maharet, die ihr Lektüre empfahl, sie anhielt, Musik- und Malunterricht zu nehmen, ihre Sommerreisen nach Europa und schließlich ihre Zulassung zur Columbia-Universität arrangierte, wo Jesse alte Sprachen und Kunst studierte.
Es war Maharet, die ihre Weihnachtsbesuche bei entfernten europäischen Verwandten arrangierte - den Scartinos in Italien, einer einflußreichen Bankerfamilie, die in einer Villa außerhalb Sienas wohnte, und den bescheideneren Borchardts in Paris, die sie in ihrem überfüllten, doch fröhlichen Heim willkommen hießen.
Im Sommer, da Jesse siebzehn wurde, ging sie nach Wien, um den russischen Emigrantenzweig der Familie kennenzulernen, junge, leidenschaftliche Intellektuelle und Musiker, die sie sehr liebte. Dann ging es nach England, um die Reeves-Familie kennenzulernen, die blutsverwandt mit den Reeves’ aus South Carolina war, die England vor Jahrhunderten verlassen hatten.
Als sie achtzehn war, besuchte sie entfernte Verwandte,
Weitere Kostenlose Bücher