Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
verregneten Nachmittag war ihr die durchsichtige Gestalt einer alten Frau entgegengeschlendert, um dann völlig selbstverständlich durch sie hindurchzugehen. Panikartig war Jesse in den nächsten Laden gerannt, und die Angestellten baten Matthew und Maria telefonisch um Hilfe. Immer wieder versuchte Jesse, das vergrämte Gesicht der Frau zu beschreiben, ihren starren Blick, der von der Umwelt nicht das geringste wahrzunehmen schien.
Wenn Jesse von diesen Dingen erzählte, glaubten ihr ihre Freunde meist kein Wort. Doch zeigten sie sich fasziniert und baten sie, diese Geschichten zu wiederholen. Derlei verletzte Jesse zutiefst. Sie versuchte also, ihr Wissen für sich zu behalten, obwohl sie vom frühen Teenageralter an immer öfter diese verlorenen Seelen sah.
Sogar am hellen Mittag im Gewühl der Fifth Avenue erblickte sie diese blassen, umherirrenden Kreaturen. Dann eines Morgens im Central Park, Jesse war inzwischen sechzehn, sah sie auf einer Bank in der Nähe die Geistererscheinung eines jungen Mannes. Um sie herum tummelte sich lärmendes Volk, doch die Gestalt schien davon abgesondert zu sein, dieser Umgebung nicht anzugehören. Die Geräusche schwanden, als würde die Kreatur sie aufsaugen. Jesse betete, daß die Erscheinung verschwinden möge. Statt dessen heftete sie unverwandt ihren Blick auf sie und versuchte, mit ihr zu sprechen.
Jesse rannte wie von Furien gepeitscht nach Hause, wo ihr Matthew ein Beruhigungsmittel gab und ihr versicherte, sie würde jetzt gleich einschlafen. Er ließ ihre Zimmertür offen, damit sie sich nicht zu fürchten brauchte.
Als Jesse so halb träumend, halb wachend dalag, kam ein junges Mädchen herein. Jesse merkte, daß sie dieses junge Mädchen kannte; natürlich, sie war ein Familienmitglied, sie war schon immer hiergewesen, hier bei Jesse, sie hatten oft miteinander gesprochen, nur darum mußte sie ihr gleich so liebevoll und vertraut vorgekommen sein. Sie war ein Teenager, nicht älter als Jesse.
Sie setzte sich auf Jesses Bettrand und sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, da diese Geister ihr niemals wirklich etwas antun könnten. Noch nie habe ein Geist jemandem Schaden zugefügt, dazu seien sie gar nicht fähig. Sie seien arme, bedauernswerte, schwache Wesen. »Schreibe Tante Maharet«, sagte das Mädchen, und dann küßte sie Jesse und strich ihr das Haar aus dem Gesicht: Das Beruhigungsmittel zeigte seine Wirkung; Jesse konnte nicht einmal mehr die Augen offenhalten. Sie wollte noch eine Frage über das Trümmerauto bei ihrer Geburt stellen, aber sogleich war ihr die Frage wieder entschlüpft. »Wiedersehen, Liebling«, sagte das Mädchen, und Jesse war eingeschlafen, bevor es das Zimmer verlassen hatte.
Als sie erwachte, war es zwei Uhr nachts. Alles schlief. Unverzüglich fing sie an, Maharet zu schreiben, von jedem eigentümlichen Zwischenfall zu berichten, dessen sie sich erinnern konnte.
Erst gegen Mittag erinnerte sie sich wieder mit jähem Schock an das junge Mädchen. Nein, dieses Wesen hatte hier nie gelebt, nie mit ihr gesprochen. Wie hatte sie nur daran glauben können? Sogar in ihrem Brief hatte sie Miriam wie selbstverständlich erwähnt. Und wer war Miriam? Ein Name auf Jesses Geburtsurkunde. Ihre Mutter.
Sie erzählte niemandem von alledem. Doch ein tröstlich-warmes Gefühl durchströmte sie. Sie konnte Miriams Gegenwart spüren, da war sie ganz sicher.
Fünf Tage später traf Maharets Brief ein. Maharet glaubte ihr. Solche Geistererscheinungen seien keineswegs ungewöhnlich. Solche Dinge gäbe es zweifellos, und Jesse sei nicht die einzige, die derlei zu sehen imstande sei:
In unserer Familie hat es schon seit Generationen viele Geisterseher gegeben. Und wit Du weißt, hat es sich dabei um Zauberer und Hexen vergangener Zeitalter gehandelt. Häufig entwickeln solche Fähigkeiten jene, die mit Deinen körperlichen Merkmalen gesegnet sind: grüne Augen, blasse Haut und rotes Haar. Vielleicht wird uns die Wissenschaft eines Tages eine Erklärung liefern. Doch sei schon jetzt versichert, daß Deine Fähigkeiten ganz natürlich sind.
Das ist freilich flicht unbedingt ein Grund zur Freude. Obwohl diese Geister wirklich existieren, können sie kindisch, rachsüchtig und hinterlistig sein. Echte Hilfe kannst Du diesen Wesen, die mit Dir m Verbindung zu treten suchen, nicht angedeihen lassen, und Zuweilen wirst Du einen leblosen Geist erblicken - dann handelt es sich um das optische Echo eines Individuums, das dieser Welt bereits
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