Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
tiefsitzenden blauen Augen! Sein ganzes Gehabe hatte etwas fast Gespenstisches - das Timbre seiner Stimme,, die schlafwandlerische Art und Weise, mit der er den Wagen gen Norden ins Sonoma County lenkte. Er trug die Lederkleidung eines Ranchers, wozu allerdings seine schwarzen Glacehandschuhe und seine goldumrandete, blaugetönte Brille nicht so recht passen mochten.
Dennoch war er vergnügt und freundlich, freute sich offenbar, sie kennenzulernen, und sie mochte ihn sofort. Sie hatte ihm ihre Lebensgeschichte erzählt, noch ehe sie in Santa Rosa angekommen waren. Aber kein Zweifel, nachdem Jesse ihn ein- oder zweimal angesehen hatte, wurde ihr schwindlig. Warum?
Das Anwesen selbst war geradezu unglaublich. Wer in aller Welt hatte so etwas bauen können? Es lag am Ende einer Holperstraße, und die hinteren Zimmer waren wie von gewaltigen Maschinen in den Berg gegraben. Dann diese Dachbalken. Waren sie aus urzeitlichem Rotholz? Ihr Umfang maß mindestens vier Meter. Und die Lehmziegelmauern waren ganz eindeutig aus alter Zeit. Waren schon damals Europäer in Kalifornien gewesen, die möglicherweise … aber was kümmerte das? Diese Baulichkeit war einfach großartig. Sie liebte die runden, eisernen Feuerstellen und die Teppiche aus Tierhäuten und die riesige Bibliothek und das Observatorium mit seinem alten Messingteleskop.
Sie liebte die gutherzige Dienerschaft, die jeden Morgen eintraf, um sauberzumachen, die Wäsche zu waschen, die üppigen Mahlzeiten zu bereiten. Es störte sie nicht einmal, daß sie die meiste Zeit alleine war. Sie unternahm ausgedehnte Spaziergänge durch den Wald. Sie ging ins Dorf Santa Rosa, um Romane und Zeitungen zu kaufen. Sie vertiefte sich in die Decken an den Wänden. Überall gab es antike Fundstücke, die sie nicht einzuordnen vermochte; sie liebte es, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen.
Und es gebrach nicht an Komfort. Moderne Antennen ermöglichten es, Fernsehprogramme aus aller Welt zu empfangen. Der Keller beherbergte ein voll eingerichtetes Kino mit Projektor, Leinwand und einer gigantischen Filmesammlung. An warmen Nachmittagen badete sie in dem Teich südlich des Hauses, und wenn gegen Abend die unvermeidliche kalifornische Kälte einbrach, brannte schon in allen Kaminen Feuer.
Ihre größte Entdeckung war freilich die Familiengeschichte, waren die unzähligen Lederbände, die den Stammbaum der Großen Familie bis in graue Vorzeit zurückverfolgten. Sie war entzückt, Hunderte von Fotoalben zu entdecken und Truhen voll handgemalter Porträts, die von winzigen, ovalen Miniaturen bis zu riesigen, staubbedeckten Ölgemälden reichten.
Sofort stürzte sie sich auf die Geschichte der Reeves aus South Carolina, ihrer eigenen Familie - stinkreich vor dem Bürgerkrieg und hinterher bettelarm. Die Fotografien konnte sie beinahe nicht betrachten. Das waren die Vorfahren, denen sie wahrhaft ähnelte; sie erkannte sich in ihren Gesichtern wieder. Sie hatten ihre blasse Haut, sogar ihren Gesichtsausdruck! Und zwei hatten ihr langes rotes Lockenhaar. FürJesse, das Adoptivkind, war das von größter Bedeutung.
Erst gegen Ende ihres Aufenthalts begriff Jesse allmählich die Zusammenhänge dieser Familiendokumente, als sie nämlich Schriftrollen öffnete, die mit alten lateinischen und griechischen Buchstaben und sogar ägyptischen Hieroglyphen bedeckt waren. An die Entdeckung der Tontafeln im tiefsten Keller konnte sie sich später kaum noch entsinnen. Um so deutlicher erinnerte sie sich ihrer Gespräche mit Maharet. Stundenlang hatten sie über die Familienchroniken gesprochen.
Am liebsten hätte Jesse sich fortan nur noch mit der Familiengeschichte beschäftigt. Für diese Bibliothek hätte sie sogar ihre Ausbildung an den Nagel gehängt. Sie wollte diese alten Dokumente übersetzen und bearbeiten und sie im Computer erfassen. Warum sollte man die Geschichte der Großen Familie nicht veröffentlichen? Denn ein so langer Stammbaum war höchst ungewöhnlich, wenn nicht einzigartig. Sogar die gekrönten Häupter Europas konnten ihr Geschlecht nicht bis in die graue Vorzeit zurückverfolgen.
Maharet begegnete Jesses Enthusiasmus mit Nachsicht, erinnerte sie daran, daß dies eine zeitaufwendige und undankbare Arbeit sei. Schließlich handele es sich nur um die uralte Geschichte einer einzigen Familie; zuweilen seien da nichts anderes als Namenslisten oder kurze Beschreibungen ereignisloser Leben oder Tabellen mit Geburts- und Todesdaten.
An diese Gespräche dachte sie gerne
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