Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
eigentlich die Uhren auf? Der Traum von den Zwillingen verfolgte sie. Aber sie war zu müde, um dagegen noch ankämpfen zu können. Sie fühlte sich wohl in dieser Umgebung. Hier gab es keine jener Geister, denen sie während ihrer Arbeit so oft begegnet war. Nur Friede. Sie hatte sich auf das alte, von derDecke hängende Bett gelegt, auf den Überzug, den sie in diesem Sommer damals zusammen mit Maharet genäht hatte. Und der Schlaf und die Zwillinge vereinigten sich.
Jetzt blieben nur noch zwei Stunden, um nach San Francisco zu gelangen, und, so schwer es ihr fiel, sie mußte dieses Haus wieder verlassen. Sie prüfte ihre Taschen durch. Paß, Papiere, Geld, Schlüssel.
Sie nahm ihre Ledertasche, warf sie sich über die Schulter und eilte durch den langen Gang der Treppe entgegen. Die Abenddämmerung sank rasch hernieder, und wenn die Dunkelheit die Wälder erst einmal einhüllte, würde man nichts mehr sehen können.
Die Eingangshalle lag noch im letzten Sonnenlicht. Ein paar Strahlen drangen durch die Westfenster und beschienen die riesige Decke an der Wand.
Bei ihrem Anblick mußte Jesse nach Atem ringen. Diese Decke hatte sie wegen ihrer Rätselhaftigkeit und Größe schon immer am liebsten gemocht. Auf den ersten Blick schien das alles nur zusammengewürfeltes Stückwerk zu sein, aber dann verschmolzen die unzähligen Stoffstückchen zu einer bewaldeten Landschaft. Ein paar Sekunden lang sah man sie, dann war sie wieder verschwunden. So war es schon in jenem Sommer gewesen, als sie voll des süßen Weines immer wieder davor auf-und abgegangen war, wobei sich ihr das Bild abwechselnd entzog und erschloß: der Berg, der Wald, ein kleines Dorf, in das grüne Tal tief unten eingebettet.
»Tut mir leid, Maharet«, flüsterte sie wieder. Sie mußte gehen. Ihr Reiseziel lag nicht mehr fern.
Aber als sie sich schon abgewandt hatte, erregte etwas in dem gesteppten Bild ihre Aufmerksamkeit. Sie drehte sich um, betrachtete es erneut. Waren da Gestalten, die sie nie gesehen hatte? Wieder verschwamm alles zu einer Fülle zusammengenähter Fragmente. Dann lösten sich langsam die Flanken des Berges heraus, dann die Olivenbäume und dann die Dachfirste des Dorfes, das nur aus gelben, im Tal verstreuten Hütten bestand. Die Gestalten? Sie konnte sie nicht finden. Das heißt, nur bis sie sich wieder abwandte. Für den Bruchteil einer Sekunde tauchten sie in ihren Augenwinkeln auf. Zwei winzige Figuren, die einander festhielten, Frauen mit rotem Haar!
Langsam, fast vorsichtig wandte sie sich dem Bild wieder zu. Ihr Herz setzte aus. Ja, da! Oder war es nur ein Trugbild?
Sie durchschritt den Raum, bis sie genau vor der Decke stand. Sie hob ihre Hände und berührte sie. Ja! Jede der beiden kleinen Stofflumpenpuppen hatte winzige grüne Knöpfe als Augen, und darunter waren die Nase und der rote Mund sorgfältig aufgenäht! Und das Haar, das Haar war rotes Garn, in grob gekräuselten Wellen über die weißen Schultern gesteppt.
Ungläubig starrte sie die Figuren an. Doch, da waren sie - die Zwillinge! Und als sie da wie erstarrt so dastand, wurde es in dem Raum allmählich dunkel. Das letzte Licht war hinter den Horizont gesunken. Die Decke verblaßte vor ihren Blicken in ein unentzifferbares Gemuster.
Benommen hörte sie die Uhr schlagen. Ruf die Talamasca an. Ruf David in London an. Erzähl ihm davon, irgend etwas. Aber das war unmöglich, und sie wußte es. Und es brach ihr das Herz, als sie einsah, daß die Talamasca niemals die ganze Geschichte erfahren würden, egal was diese Nacht für sie bereithielt.
Sie zwang sich fortzugehen, die Tür hinter sich abzuschließen und sich auf den Weg zu machen.
Sie begriff ihre Gefühle nicht ganz, warum sie so erschüttert und am Rande der Tränen war. Es bestätigte ihre Ahnungen, das, was sie zu wissen glaubte. Und dennoch war sie so verängstigt, daß sie weinte.
Warte auf Maharet.
Aber das konnte sie nicht. Maharet würde sie bezaubern, verwirren, sie im Namen der Liebe von dem Mysterium ablenken. Genau das war in diesem langen Sommer damals geschehen. Nichts konnte dem Vampir Lestat widerstehen. Der Vampir Lestat war das entscheidende Glied zu des Rätsels Lösung. Ihn zu sehen und zu berühren, mußte die endgültige Bestätigung bedeuten.
Das rote Mercedes-Kabriolett sprang sofort an. Kiesel spritzten auf, als sie wendete und der schmalen, ungepflasterten Straße entgegenflitzte. Das Verdeck war heruntergelassen,- bis zur Ankunft in San Francisco würde sie
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