Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Experiments auf mich sein würden. Er konnte es nicht wissen. Und er konnte auch nicht wissen, wo die Grenzen der Macht lagen, die er jetzt besaß.
Ah, aber so weit war es noch nicht. Daß er mein Geld gestohlen, daß er das Haus ausgeplündert hatte - das war James’ Vorstellung von einem üblen Streich, nicht mehr und nicht weniger. Er hatte mir die Kleider und das Geld nicht hierlassen können. Seine diebische, kleinkarierte Natur ließ es nicht zu. Er mußte immer ein bißchen betrügen, das war alles. Natürlich würde er zurückkommen und sich seine zwanzig Millionen holen. Und er rechnete damit, daß ich ihm nichts tun würde, weil ich das Experiment würde wiederholen wollen, weil ich ihn als das einzige Wesen schätzen würde, das mir erfolgreich dazu verhelfen könnte.
Ja, das war das As in seinem Ärmel, dachte ich - daß ich dem einen Sterblichen, der diesen Tausch bewerkstelligen konnte, wenn ich es noch einmal tun wollte, nichts antun würde.
Wenn ich es noch einmal tun wollte! Ich mußte lachen. Ich lachte, und was für ein seltsames, fremdartiges Geräusch das war! Ich schloß die Augen fest und saß einen Moment lang nur so da. Der Schweiß, der an meinen Rippen klebte, war mir zuwider; der Schmerz in meinem Bauch und in meinem Kopf war mir zuwider, und das schwere, wattierte Gefühl in Händen und Füßen war mir zuwider. Und als ich die Augen wieder öffnete, sah ich nichts als diese verschwommene Welt voll unscharfer Ränder und fahler Farben …
Das noch einmal tun? Reiß dich zusammen, Lestat. Du beißt die Zähne so heftig zusammen, daß du dich verletzt hast! Du hast dir in die Zunge gebissen! Du bringst deine eigene Zunge zum Bluten! Und das Blut schmeckt wie Wasser und Salz, nur wie Wasser und Salz, Wasser und Salz! Um der lieben Hölle willen, reiß dich zusammen. Hör auf damit!
Ich saß ein paar Augenblicke lang still da; dann stand ich auf und machte mich systematisch auf die Suche nach einem Telefon.
Im ganzen Haus war keins.
Ausgezeichnet.
Wie dumm war ich gewesen, daß ich dieses ganze Erlebnis nicht hinreichend geplant hatte! Ich hatte mich von den großen spirituellen Aspekten der Sache dermaßen mitreißen lassen, daß ich überhaupt keine vernünftigen Vorkehrungen für mich selbst getroffen hatte. Ich hätte eine Suite im Willard reservieren und Geld im Hotelsafe hinterlegen sollen. Und ich hätte mich um einen Wagen kümmern sollen.
Der Wagen. Was war mit dem Wagen?
Ich ging zum Kleiderschrank in der Diele und nahm den Mantel heraus. Er hatte einen Riß im Futter; vermutlich war er deshalb nicht verkauft worden. Ich zog ihn an und fand zu meiner Verzweiflung, daß keine Handschuhe in den Taschen steckten. Ich schloß sorgfältig die Tür zum Eßzimmer und ging zur Hintertür hinaus, nicht ohne Mojo zu fragen, ob er mitkommen oder hierbleiben wolle. Natürlich wollte er mit.
Der Schnee rings um das Haus herum lag fast einen halben Meter hoch. Ich mußte mir meinen Weg hindurchbahnen, und als ich zur Straße kam, sah ich, daß er hier noch höher lag.
Kein roter Porsche. Natürlich nicht. Weder links von der Treppe noch irgendwo sonst am Straßenrand. Um sicher zu sein, ging ich bis zur Straßenecke, bevor ich umdrehte und zurückkam. Ich hatte eiskalte Hände und Füße, und die Haut in meinem Gesicht tat regelrecht weh.
Also gut, dann mußte ich eben zu Fuß gehen, zumindest bis ich eine Telefonzelle gefunden hätte. Der Schnee wehte weg von mir, was immerhin ein Segen war, aber ich wußte ja nicht einmal, in welche Richtung ich zu gehen hatte.
Was Mojo anging, so schien er dieses Wetter zu lieben; er pflügte sich gleichmäßig voran, und der Schnee rieselte glitzernd in kleinen Flocken über sein dichtes, üppiges Fell. Ich hätte mit dem Hund tauschen sollen, dachte ich, und der Gedanke an Mojo in meinem Vampirkörper brachte mich zum Lachen; ich bekam einen meiner üblichen Anfälle: Ich lachte und lachte und lachte und drehte mich im Kreis, und dann hielt ich schließlich inne, weil ich wirklich fast erfror. Trotzdem, das alles war schrecklich komisch. Da war ich nun ein Mensch - ein unbezahlbares Erlebnis, von dem ich seit meinem Tod träumte -, und jetzt war es mir zuwider bis ins Mark dieser menschlichen Knochen! Ich fühlte nagenden Hunger in meinem geräuschvoll knurrenden Magen. Und gleich noch einmal: ein richtiger Hungerkrampf.
»Paolo’s. Ich muß Paolo’s finden, aber wie soll ich etwas zu essen kriegen? Ich brauche etwas zu essen, nicht wahr?
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