Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Ohne Essen geht es einfach nicht weiter. Ich werde schwach, wenn ich nichts zu essen bekomme.«
An der Ecke der Wisconsin Avenue angekommen, sah ich weiter unten Lichter und Leute. Die Straße war vom Schnee befreit worden und offensichtlich frei für den Verkehr. Ich sah, wie die Leute geschäftig unter den Straßenlaternen hin und her gingen, aber das alles war natürlich aufreizend trüb.
Ich lief eilig weiter. Meine Füße waren inzwischen schmerzhaft taub, was kein Widerspruch in sich ist, wie jeder weiß, der einmal durch den Schnee gelaufen ist. Endlich sah ich das erleuchtete Fenster eines Cafés. Martini’s. Okay. Vergessen wir Paolo’s. Martini’s wird genügen müssen. Ein Auto hatte davor angehalten; ein ansehnliches junges Paar stieg hinten aus, lief eilig zum Eingang und ging hinein. Ich näherte mich langsam der Tür und sah, wie eine recht hübsche junge Frau an einem hohen Holzpult zwei Speisekarten für das junge Paar in die Hand nahm und die beiden nach hinten ins Halbdunkel führte. Ich sah Kerzen, karierte Tischtücher. Und ich erkannte plötzlich, daß der furchtbare, übelkeiterregende Geruch, der mir in die Nase drang, von verbranntem Käse kam.
Als Vampir hätte mir dieser Geruch nicht gefallen, nein, ganz und gar nicht; aber so übel wäre mir davon nun auch wieder nicht geworden. Er wäre außerhalb meiner selbst gewesen. Aber jetzt schien er sich mit dem Hunger in mir zu verbinden; er zerrte an den Muskeln in meinem Schlund. Ja, der Geruch schien plötzlich in meinen Eingeweiden zu sitzen und sich dort in einen übelkeiterregenden Druck zu verwandeln.
Eigenartig. Ja, man muß wohl alle diese Dinge zur Kenntnis nehmen. So ist es, wenn man lebt.
Die hübsche junge Frau war zurückgekommen. Ich sah ihr helles Profil, als sie auf das Blatt auf ihrem kleinen Pult blickte und ihren Stift hob, um ein Zeichen zu machen. Sie hatte langes, welliges dunkles Haar und eine sehr helle Haut. Ich wünschte, ich könnte sie besser sehen, und ich bemühte mich, ihre Witterung aufzunehmen, aber ich konnte nicht. Ich roch nur den verbrannten Käse.
Ich öffnete die Tür und ignorierte den wuchtigen Gestank, der mir entgegenschlug; ich ging hindurch, bis ich vor der jungen Frau stand. Die gesegnete Wärme des Lokals umhüllte mich mitsamt ihren Gerüchen. Die Frau war schrecklich jung; sie hatte ziemlich scharf geschnittene Züge und längliche, schmale schwarze Augen. Ihr Mund war groß und exquisit geschminkt, und sie hatte einen langen, wunderschön geformten Hals. Ihre Figur war zwanzigstes Jahrhundert - lauter Knochen unter einem schwarzen Kleid.
»Mademoiselle«, sagte ich und verstärkte absichtlich meinen französischen Akzent. »Ich bin sehr hungrig, und es ist schrecklich kalt draußen. Kann ich etwas tun, um mir einen Teller Essen zu verdienen? Ich werde die Fußböden wischen, wenn Sie wollen, Töpfe und Pfannen schrubben - ich tue, was ich muß.«
Sie starrte mich einen Moment lang ausdruckslos an. Dann trat sie einen Schritt zurück, schüttelte ihr langes, welliges Haar, verdrehte die Augen und schaute mich eisig an. »Raus«, sagte sie. Ihre Stimme klang blechern und flach. Sie war es natürlich nicht; es lag nur an meinen sterblichen Ohren. Die Resonanz, die ein Vampir wahrnehmen konnte, war für mich unhörbar.
»Oder kann ich ein Stück Brot haben?« fragte ich. »Nur ein Stück Brot.« Die Essensgerüche, so übel sie waren, folterten mich. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wie Essen schmeckte; ich konnte mich nicht erinnern, wie Beschaffenheit und Nahrhaftigkeit sich verbanden, aber etwas rein Menschliches überwältigte mich. Ich schmachtete verzweifelt nach etwas Eßbarem.
»Ich rufe die Polizei«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte ein wenig, »wenn Sie nicht verschwinden.«
Ich versuchte, ihre Gedanken zu lesen. Nichts. Ich sah mich um und schaute blinzelnd in die Dunkelheit. Versuchte, die Gedanken anderer Menschen zu empfangen. Nichts. Ich hatte in diesem Körper nicht die Kraft dazu. Oh, aber das ist nicht möglich. Ich schaute sie wieder an. Nichts. Nicht einmal ein Schimmer ihrer Gedanken. Eigentlich nicht einmal ein Instinktes Empfinden, das mir sagte, was für ein Mensch sie war.
»Ah, schon gut«, sagte ich und schenkte ihr das sanfteste Lächeln, das ich zuwege brachte, ohne mir vorstellen zu können, wie es aussah oder wie es wirkte. »Hoffentlich schmoren Sie in der Hölle für Ihre Hartherzigkeit. Aber Gott weiß, ich habe nichts Besseres verdient.« Ich
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