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Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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in frischen Uniformen zu sehen, die dem eisigen Wind trotzen und auf dem sonnenüberfluteten Asphalt des Schulhofs ihre Spiele veranstalten.
    Eine machtvolle, optimistische Energie verband alle diese Wesen miteinander; man spürte, wie die Studenten sie ausstrahlten, die zwischen den Gebäuden auf dem Campus umherliefen oder sich in engen, warmen Restaurants versammelten, um dort zu Mittag zu essen.
    Wie Blumen im Licht hatten diese Menschen sich geöffnet, hatten ihren Schritt und ihre Rede beschleunigt. Und als ich die Wärme der Sonne selbst auf Gesicht und Händen fühlte, da öffnete auch ich mich, als wäre ich eine Blume. Ich fühlte, wie die Chemie dieses sterblichen Körpers reagierte, trotz der Verstopfungen in meinem Kopf und des ermüdenden Schmerzes in meinen frierenden Händen und Füßen.
    Ich ignorierte den Husten, der von Stunde zu Stunde schlimmer wurde, und auch die zunehmende Verschwommenheit der Sicht, die wirklich lästig war; ich marschierte mit Mojo auf der lärmenden M Street nach Washington hinein, in die Hauptstadt der Nation, und wanderte dort zwischen marmornen Gedenkstätten und Monumenten umher, zwischen den riesigen und eindrucksvollen Regierungsgebäuden und Residenzen und dann durch die sanfte, traurige Schönheit des Soldatenfriedhofs von Arlington mit seinen Tausenden von kleinen, identischen Grabsteinen hinauf zu dem schmucken, verstaubten kleinen Haus des großen Konföderiertengenerals Robert E.Lee.
    Inzwischen war ich im Delirium. Und höchstwahrscheinlich verstärkte mein ganzes körperliches Unbehagen nur mein Glücksgefühl - indem es mich benommen und hektisch machte, als stände ich unter Alkohol oder Drogen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich glücklich war, sehr glücklich, und die Welt bei Licht war nicht die Welt im Dunkeln.
    Viele, viele Touristen trotzten wie ich der Kälte, um sich die berühmten Sehenswürdigkeiten anzuschauen. Ich schwelgte stumm in ihrer Begeisterung, denn ich wußte, daß die breiten, offenen Panoramen der Hauptstadt auf alle diese Wesen ebenso wirkten wie auf mich: Es machte sie froh und verwandelte sie, den weiten blauen Himmel über sich zu sehen und die vielen spektakulären Steindenkmäler zur Erinnerung an die Leistungen der Menschheit.
    »Ich bin einer von ihnen!« erkannte ich plötzlich - nicht Kain auf der endlosen Jagd nach dem Blut seines Bruders. Benebelt schaute ich mich um. »Ich bin einer von euch!«
    Lange schaute ich von der Höhe von Arlington auf die Stadt hinunter; ich zitterte vor Kälte und weinte sogar ein bißchen über den atemberaubenden Anblick - so ordentlich, so repräsentativ für die Grundsätze des großen Zeitalters der Vernunft. Ich wünschte mir, Louis wäre bei mir oder David wäre da, und es tat mir im Herzen weh, daß sie bestimmt mißbilligen würden, was ich getan hatte.
    Aber, oh, dies war der wahre Planet, den ich hier sah, die lebendige Erde, geboren aus Sonnenschein und Wärme selbst unter ihrem schimmernden Mantel aus Winterschnee.
    Schließlich ging ich wieder den Hang hinunter; Mojo lief voraus und kam dann zurück, um mich zu begleiten, und ich wanderte am Ufer des zugefrorenen Potomac entlang und sah voller Staunen, wie die Sonne sich im Eis und im schmelzenden Schnee spiegelte. Es machte sogar Spaß, dem Schnee beim Schmelzen zuzuschauen.
    Irgendwann am Nachmittag stand ich plötzlich wieder vor dem großen marmornen Jefferson Memorial, einem eleganten, geräumigen griechischen Pavillon, in dessen Wände überaus feierliche, bewegende Worte gemeißelt waren. Das Herz wollte mir bersten, als ich begriff, daß ich für die kostbare Frist dieser Stunden nicht abgeschnitten war von den Empfindungen, die hier zum Ausdruck gebracht worden waren. Und für eine kleine Weile mischte ich mich wirklich unter die Menschen und war nicht zu unterscheiden von all den anderen.
    Aber das war eine Lüge, nicht wahr? Ich trug meine Schuld in mir -in der Kontinuität meiner Erinnerung, in meiner unabänderlichen, individuellen Seele: Lestat, der Mörder, Lestat, der nächtliche Jäger. Ich mußte an Louis’ warnende Worte denken: »Du kannst kein Mensch werden, indem du einfach einen menschlichen Körper übernimmst.« Und ich sah den betroffenen, tragischen Ausdruck seines Gesichtes vor mir.
    Aber, gütiger Gott, was wäre denn, wenn der Vampir Lestat nie existiert hätte? Wenn er nur die literarische Schöpfung, die reine Erfindung des Mannes wäre, in dessen Körper ich jetzt lebte und atmete? Was für

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