Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
eine wunderschöne Idee!
Lange blieb ich auf den Stufen der Gedenkstätte stehen und hielt den Kopf gesenkt, während der Wind an meinen Kleidern zerrte. Eine freundliche Frau sagte mir, ich sei krank und müsse mir den Mantel zuknöpfen. Ich starrte ihr ins Gesicht und erkannte, daß sie nur einen jungen Mann vor sich sah. Sie war nicht geblendet und hatte keine Angst. Und in mir lauerte kein Hunger; ich lechzte nicht danach, ihr Leben zu beenden, damit ich das meine um so besser genießen könnte. Armes, reizendes Geschöpf mit hellblauen Augen und ausgebleichtem Haar! Ganz plötzlich ergriff ich ihre kleine, runzlige Hand und küßte sie, und ich sagte ihr auf französisch, daß ich sie liebte, und ich sah, wie ein Lächeln auf ihrem schmalen, welken Gesicht erblühte. Wie reizend sie mir erschien, so reizend wie nur irgendein Mensch, den ich je mit meinen Vampiraugen angeschaut hatte.
All die schmutzige Schäbigkeit der vergangenen Nacht war in diesen Tageslichtstunden ausgelöscht. Ich glaube, meine größten Träume bezüglich dieses Abenteuers waren in Erfüllung gegangen.
Aber der Winter lastete schwer und hart um mich herum. Obgleich der blaue Himmel sie aufmunterte, sprachen die Menschen von einem noch schlimmeren Unwetter, das bevorstehe. Die Geschäfte schlössen vor der Zeit, die Straßen würden bald wieder unpassierbar sein, der Flughafenverkehr war schon eingestellt. Passanten ermahnten mich warnend, einen Kerzenvorrat bereitzuhalten, denn es könne in der Stadt zu einem Stromausfall kommen. Und ein alter Herr mit einer dicken Wollmütze, die er sich tief ins Gesicht gezogen hatte, schimpfte mit mir, weil ich keinen Hut aufhatte. Eine junge Frau meinte, ich sähe krank aus und solle lieber rasch nach Hause gehen.
Nur eine Erkältung, antwortete ich; ein gutes Hustentonikum, oder wie immer man es heute nannte, und alles wäre wieder in Ordnung. Raglan James würde wissen, was zu tun wäre, wenn er seinen Körper wieder übernähme. Er würde nicht überglücklich sein, aber er könnte sich ja mit seinen zwanzig Millionen trösten. Außerdem hatte ich immer noch ein paar Stunden Zeit, um Medizin einzunehmen und zu ruhen.
Vorläufig war mein allgemeines Unbehagen noch zu groß, als daß ich mir wegen einer solchen Sache Sorgen gemacht hätte. Ich hatte genug Zeit mit solchen unbedeutenden Ablenkungen verschwendet. Und natürlich würde die Hilfe gegen all die kleinlichen Widrigkeiten des Lebens - ah, des wirklichen Lebens! - nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Ja, ich hatte überhaupt nicht mehr an die Zeit gedacht. Mein Geld müßte inzwischen in der Agentur auf mich warten. Ich warf einen Blick auf eine Uhr in einem Schaufenster. Halb drei. Die große, billige Armbanduhr an meinem Handgelenk sagte das gleiche. Dann hatte ich ja nur noch dreizehn Stunden!
Dreizehn Stunden in diesem furchtbaren Körper, mit Kopfschmerzen und zerschlagenen Gliedern! Mein Glücksgefühl verschwand in einem kalten Angstschauer. Oh, aber dieser Tag war zu schön, als daß ich ihn durch Feigheit ruinieren durfte! Ich dachte einfach nicht weiter daran.
Erinnerungen an Gedichtfetzen waren mir in den Sinn gekommen … hin und wieder auch die sehr verschwommene Erinnerung an den letzten Winter als Sterblicher, wie ich in der großen Halle meines Vaterhauses vor dem Kamin gekauert und verzweifelt versucht hatte, meine Hände an einem ersterbenden Feuer zu wärmen. Aber im allgemeinen war ich auf eine Weise im Augenblick verhaftet gewesen, die für meinen fiebrigen, berechnenden, mutwilligen Sinn völlig ungewohnt war. So sehr hatte mich das, was rings um mich herum vorging, verzaubert, daß ich mich stundenlang nicht in ablenkende Gedanken verloren hatte.
Das war außergewöhnlich, absolut außergewöhnlich. Und in meiner Euphorie war ich sicher, daß ich die Erinnerung an diesen einfachen Tag für alle Zeit im Gedächtnis behalten würde.
Der Rückweg nach Georgetown kam mir zuweilen wie eine unüberwindliche Strapaze vor. Schon bevor ich das Jefferson Memorial verlassen hatte, waren Wolken aufgezogen, und der Himmel nahm rasch die Farbe von stumpfem Zinn an. Das Licht trocknete ein wie eine Flüssigkeit.
Gleichwohl liebte ich es auch in seinen melancholischeren Manifestationen. Ich war gebannt vom Anblick bang besorgter Sterblicher, die ihre Ladenfassaden verrammelten und sich mit ihren Einkaufstüten gegen den Wind stemmten, und von Autoscheinwerfern, die hell, ja, beinahe fröhlich durch die zunehmende
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