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Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Mon Dieu, diese kleinen Qualen! Wie ertrugen die Sterblichen das nur? Wie hatte ich es je ertragen? Was für ein Schmerz! Wie eine Flüssigkeit, die sich unter der Haut ausbreitete.
    Aber es sollten noch schlimmere Strapazen kommen. Die nackte Verzweiflung zwang mich, die Toilette zu benützen, wie es erforderlich war, und mich nachher zu säubern - widerlich! Und mir die Hände zu waschen. Wieder und wieder wusch ich mich, fröstelnd vor Ekel. Als ich sah, daß das Gesicht dieses Körpers inzwischen mit einem dunklen Schatten von rauhen Bartstoppeln bedeckt war, mußte ich lachen. Wie eine Kruste lag er auf meiner Oberlippe und meinem Kinn und reichte sogar bis in den Hemdkragen hinunter. Wie sah ich aus? Wie ein Verrückter, ein Penner. Aber ich konnte das alles nicht abrasieren. Ich hatte keinen Rasierapparat, und bestimmt hätte ich mir dabei auch die Kehle durchgeschnitten.
    Was für ein dreckiges Hemd. Ich hatte vergessen, die neuen Sachen anzuziehen, die ich mir gekauft hatte, aber war es jetzt nicht zu spät für so etwas? Mit dumpfer, benebelter Verwunderung sah ich, daß es auf meiner Armbanduhr zwei Uhr war. O Gott, die Stunde der Verwandlung stand kurz bevor!
    »Komm, Mojo«, sagte ich. Wir nahmen die Treppe, nicht den Aufzug, was keine große Leistung war, da wir uns nur im ersten Stock befanden, und wir schlichen uns durch die stille, fast leere Lobby hinaus in die Nacht.
    Hohe Schneewehen lagen überall. Die Straßen waren offensichtlich unpassierbar, und es kam immer wieder vor, daß ich hinfiel und mit den Armen tief im Schnee versank; dann leckte Mojo mir das Gesicht, als wolle er mich warm halten. Aber ich kämpfte mich weiter den Berg hinauf, ohne mich um meinen geistigen und körperlichen Zustand zu kümmern, bis ich schließlich um die Ecke bog und vor mir die Lichter des vertrauten Stadthauses erblickte.
    Die dunkle Küche war von tiefem, weichem Schnee erfüllt. Es schien kein Problem zu sein, sich hindurchzupflügen, bis ich merkte, daß eine gefrorene Eisschicht - vom Unwetter der letzten Nacht -darunterlag, die sehr glatt war.
    Dennoch gelang es mir, wohlbehalten ins Wohnzimmer zu kommen, und frierend legte ich mich dort auf den Boden. Erst jetzt fiel mir ein, daß ich meinen Mantel vergessen hatte und mit ihm alles Geld, das ich mir in die Taschen gestopft hatte. Nur ein paar Scheine waren noch in meinem Hemd. Aber das machte nichts. Der Körperdieb würde bald hier sein. Dann bekäme ich meine alte Gestalt zurück, mit all meinen Kräften! Und wie schön würde es dann werden, über alles nachzusinnen, wohlig und gesund in meinem Nest in New Orleans, wo Krankheit und Kälte nichts mehr bedeuteten, Schmerzen und Beschwerden nicht mehr existieren würden. Der Vampir Lestat würde ich sein, der über den Dächern dahinflog und mit ausgestreckten Händen nach den fernen Sternen griff.
    Im Vergleich zum Hotel fand ich es hier eiskalt. Einmal drehte ich mich um, spähte zu dem kleinen Kamin hinüber und versuchte, die Holzscheite mit der Kraft meiner Gedanken in Brand zu setzen. Dann lachte ich, als mir einfiel, daß ich noch nicht Lestat war, daß James aber bald kommen würde.
    »Mojo, ich kann diesen Körper keinen Augenblick länger ertragen«, wisperte ich. Der Hund saß vor dem Fenster und starrte hechelnd hinaus in die Nacht, und sein Atem ließ die Scheibe beschlagen.
    Ich versuchte wach zu bleiben, aber ich konnte es nicht. Je kälter mir wurde, desto schläfriger wurde ich. Und dann packte mich ein überaus beängstigender Gedanke. Was wäre, wenn ich diesen Körper im entscheidenden Moment nicht verlassen könnte? Wenn ich kein Feuer machen konnte, wenn ich keine Gedanken lesen konnte, wenn ich …
    Halb von Träumen umhüllt, versuchte ich, den kleinen übersinnlichen Trick zu vollbringen. Ich ließ meinen Geist fast bis an den Rand der Träume sinken. Ich spürte das tiefe, köstliche Vibrieren, das dem Aufsteigen des Geistleibes oft warnend vorausgeht. Aber nichts Ungewöhnliches passierte. Ich versuchte es noch einmal. »Steig schon auf«, sagte ich und versuchte mir vorzustellen, wie die ätherische Gestalt meiner selbst sich losriß und, von ihren Fesseln befreit, zur Decke stieg. Ich hatte kein Glück. Ebensogut hätte ich versuchen können, mir Federn und Flügel wachsen zu lassen. Und ich war so müde, so schmerzgeplagt. Ja, ich war verankert in diesen hoffnungslosen Gliedern, gut befestigt in dieser schmerzenden Brust und kaum imstande zu atmen, ohne daß es mir zur Plage

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