Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Sie schaute wie die anderen auf mich herab; ihr Gesicht lag im Schatten, und der Himmel hinter ihr glänzte furchterregend und gefährlich.
»O Gott, Claudia, die Sonne - du mußt weg!« rief ich.
»Liegen Sie still, Mister; sie kommen schon.«
»Ganz still liegen bleiben, Junge.«
Wo war sie? Wohin war sie verschwunden? Ich schloß die Augen und lauschte nach dem Klappern ihrer Absätze auf dem Pflaster. War es Gelächter, was ich da hörte?
Der Krankenwagen, Sauerstoffmaske. Nadel. Und ich verstand. Ich würde in diesem Körper sterben, und es ging so einfach! Wie Milliarden anderer Sterblicher würde ich entschlafen. Ah, das war der Grund für alles; deshalb war der Körperdieb zu mir gekommen, der Engel des Todes: um mir die Mittel zu geben, die ich mit Lügen und Stolz und Selbsttäuschung gesucht hatte. Ich würde sterben.
Und ich wollte nicht sterben! »Gott, bitte, nicht so, nicht in diesem Körper.« Ich schloß die Augen und flüsterte: »Noch nicht, nicht jetzt gleich. Oh, bitte, ich will nicht! Ich will nicht sterben. Laß mich nicht sterben.« Ich weinte, gebrochen und angsterfüllt. Oh, aber es war vollkommen, nicht wahr? Herrgott im Himmel, hatte sich mir je ein vollkommeneres Muster offenbart - dem feigen Monster, das in die Wüste Gobi gegangen war, nicht um des Feuers willen, sondern aus Stolz, aus Stolz, aus Stolz.
Ich preßte die Augenlider zusammen, und ich fühlte, wie mir die Tränen übers Gesicht rannen. »Laß mich nicht sterben, bitte, bitte. Nicht jetzt, nicht so, nicht in diesem Körper! Hilf mir!«
Eine kleine Hand berührte mich, schob sich mühsam in meine, und dann war es ihr gelungen, und sie hielt mich fest, zärtlich und warm. Ah, so weich. Und so klein. Und du weißt, wessen Hand das ist, du weißt es, aber du hast zuviel Angst, um die Augen zu öffnen.
Wenn sie da ist, dann stirbst du wirklich. Ich kann die Augen nicht öffnen. Ich habe Angst, oh, solche Angst. Zitternd und schluchzend hielt ich die kleine Hand fest, so fest, daß ich sie sicher zerquetschte, aber ich wollte die Augen nicht öffnen.
Louis, sie ist hier. Sie ist gekommen, um mich zu holen. Hilf mir, Louis, bitte. Ich kann sie nicht ansehen. Ich will nicht. Und ich kann meine Hand nicht losbekommen! Und wo bist du? Du schläfst in der Erde, in deinem wilden, verlotterten Garten, wo die Wintersonne auf die Blumen scheint, schläfst dort, bis die Nacht wiederkommt.
Marius, hilf mir. Pandora, wo immer du bist, hilf mir. Khayman, komm und hilf mir. Armand, jetzt sei kein Haß mehr zwischen uns. Ich brauche dich. Jesse, laß nicht zu, daß mir etwas zustößt.
Oh, das leise, erbärmliche Murmeln eines Dämonengebets unter dem Heulen der Sirene. Öffne nicht die Augen. Sieh sie nicht an. Wenn du es tust, ist alles vorbei.
Hast du in diesen letzten Augenblicken um Hilfe gerufen, Claudia? Hattest du Angst? Hast du das Licht gesehen, das den Luftschacht erfüllte wie das Feuer der Hölle, oder war es das große, schöne Licht, das die ganze Welt mit Liebe erfüllte?
Wir standen zusammen auf dem Friedhof in der warmen, duftenden Abendluft, erfüllt von fernen Sternen und weichem Purpurlicht. Ja, von all den vielen Farben der Dunkelheit. Sieh nur ihre leuchtende Haut, das dunkle Blut ihrer Lippen, die tiefe Farbe ihrer Augen. Sie hielt ihren Strauß mit gelben und weißen Chrysanthemen im Arm. Nie werde ich diesen Duft vergessen.
»Liegt meine Mutter hier begraben?«
»Ich weiß es nicht, petite chérie. Ich wußte nicht einmal, wie sie hieß.« Sie war verwest und stank, als ich auf sie stieß, und Ameisen krochen ihr durch die Augen und in den offenen Mund.
»Du hättest es herausfinden müssen. Das hättest du für mich tun müssen. Ich wüßte gern, wo sie begraben liegt.«
»Das ist ein halbes Jahrhundert her, chérie. Hasse mich wegen größerer Dinge. Hasse mich, wenn du willst, weil du jetzt nicht neben ihr liegst. Würde sie dich warmhalten, wenn du es tätest? Blut ist warm, chérie. Komm mit, und trinke Blut, wie wir beide es verstehen. Wir können zusammen Blut trinken bis zum Ende der Welt.«
»Ah, du hast auf alles eine Antwort.« Wie kalt ihr Lächeln ist. In diesem Zwielicht sieht man fast die Frau in ihr, die diese für die Ewigkeit ausgeprägte kindliche Süße durch die unübersehbare Verlockung, sie zu küssen, zu umarmen, zu lieben, Lügen straft.
»Wir sind der Tod, ma chérie. Tod ist die letzte Antwort.« Ich nahm sie auf den Arm, fühlte, wie sie sich an mich schmiegte, küßte
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