Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
wurde.
Aber James würde bald hier sein. Der Zauberer, der die Tricks kannte. Ja, James in seiner Gier nach den zwanzig Millionen würde den ganzen Prozeß in die Hand nehmen.
Als ich die Augen aufschlug, war es heller Tag.
Ich richtete mich kerzengerade auf und starrte geradeaus. Ein Irrtum war nicht möglich. Die Sonne stand hoch am Himmel und ließ einen Wirbel von Licht durch die vorderen Fenster auf den lackierten Boden fallen. Ich hörte Verkehrsgeräusche draußen.
»Mein Gott«, flüsterte ich auf englisch, denn Mon Dieu bedeutete einfach nicht das gleiche. »Mein Gott, mein Gott, mein Gott.«
Schwer atmend ließ ich mich wieder zurücksinken; im Augenblick war ich zu verdattert, als daß ich zu einem zusammenhängenden Gedanken oder einer Einschätzung der Lage hätte kommen können; ich wußte auch nicht, ob es Wut war, was ich empfand, oder blinde Angst. Langsam hob ich die Hand, um auf meine Armbanduhr zu sehen. Elf Uhr siebenundvierzig.
In weniger als einer Viertelstunde würde das Vermögen von zwanzig Millionen Dollar, das auf einem Treuhandkonto bei einer Bank hier in der Stadt lag, wieder an Lestan Gregor, mein pseudonymes Ich, zurückfallen, und Raglan James hatte mich in diesem Körper zurückgelassen und war offensichtlich nicht vor dem Morgengrauen in dieses Haus zurückgekommen, um den Tausch zu vollziehen, der Teil unserer Vereinbarung war, und jetzt, nachdem er dieses gewaltige Vermögen verwirkt hatte, würde er höchstwahrscheinlich überhaupt nie mehr zurückkommen.
»O Gott, hilf mir«, sagte ich laut; Schleim stieg mir in die Kehle, und der Husten sandte stechende Schmerzen durch meine Brust. »Ich hab’s gewußt«, flüsterte ich. »Ich hab’s gewußt.« Was für ein Trottel ich gewesen war, was für ein unglaublicher Trottel.
Du elender Halunke, dachte ich, du verabscheuungswürdiger Körperdieb, so kommst du mir nicht davon, verdammt! Wie kannst du es wagen, so mit mir umzuspringen? Und diesen Körper…! Dieser Körper, in dem du mich zurückgelassen hast und der alles ist, was ich habe, um dich zu jagen - dieser Körper ist krank, richtig krank.
Als ich schließlich taumelnd auf die Straße hinaustrat, war es genau zwölf. Aber was besagte das schon? Ich wußte den Namen und die Adresse der Bank nicht mehr. Ich hätte auch keinen guten Grund dafür angeben können, dort aufzukreuzen. Weshalb sollte ich Anspruch erheben auf zwanzig Millionen, die in fünfundvierzig Sekunden sowieso an mich zurückfallen würden? Ja, wo sollte ich diese fröstelnden Fleischmassen jetzt überhaupt hinschleppen?
Ins Hotel, um meine Kleider zu holen? Oder ins Krankenhaus, um mir die Medikamente geben zu lassen, die ich dringend brauchte?
Oder nach New Orleans, zu Louis, Louis, der mir helfen mußte, Louis, der es vielleicht als einziger auf der Welt wirklich konnte. Wie sollte ich diesen elenden, hinterlistigen, selbstzerstörerischen Körperdieb ausfindig machen, wenn Louis mir nicht half! Oh, aber was würde Louis tun, wenn ich zu ihm käme? Wie würde er urteilen, wenn er begriffen hätte, was ich getan hatte?
Ich fiel. Ich hatte das Gleichgewicht verloren und zu spät nach dem Eisengeländer gegriffen. Ein Mann stürzte auf mich zu. Schmerz explodierte in meinem Hinterkopf, als ich auf die Treppenstufe schlug. Ich preßte die Augen zu und biß die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich den heiteren blauen Himmel über mir.
»Rufen Sie einen Krankenwagen«, sagte der Mann zu einem anderen. Dunkle, konturlose Gestalten vor dem gleißenden Himmel, dem strahlenden, gesunden Himmel.
»Nein!« Ich wollte schreien, aber es kam nur ein heiseres Flüstern zustande. »Ich muß nach New Orleans!« In einem Schwall von Worten versuchte ich alles zu erklären: das Hotel, das Geld, meine Kleider, konnte mir nicht jemand aufhelfen, ein Taxi rufen, ich mußte sofort nach Georgetown.
Dann lag ich sehr still im Schnee. Und ich dachte, wie schön doch der Himmel dort oben aussah, die dünnen weißen Wolken, die darüber hinwegjagten, und selbst die trüben Schatten, die mich umringten, diese Leute, die so leise und verstohlen miteinander flüsterten, daß ich sie nicht verstand. Und Mojo bellte, er bellte und bellte. Ich versuchte zu sprechen, aber ich konnte es nicht, konnte ihm nicht einmal sagen, daß alles gutgehen würde, ganz gewiß.
Ein kleines Mädchen kam heran. Ich sah ihr langes Haar, die kleinen Puffärmel und ein Band, das im Wind wehte.
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