Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Sie hatte später mit Leprakranken arbeiten und ein Leben der alles verzehrenden, heroischen Arbeit finden wollen. Als Kind hatte sie sich eine kleine Kapelle hinter dem Haus gebaut, und dort hatte sie stundenlang vor dem Kruzifix gekniet und gehofft, daß die Wundmale Christi sich in ihren Händen und Füßen öffnen würden - die Stigmata.
»Ich habe diese Geschichten sehr ernst genommen«, sagte sie. »Heilige sind für mich real. Heroismus ist eine reale Möglichkeit für mich.«
»Heroismus«, sagte ich. Mein Wort. Aber wie anders war meine Definition. Ich unterbrach sie nicht weiter.
»Es war, als stehe das Klavierspielen im Widerstreit mit meiner spirituellen Seele. Ich wollte alles für andere aufgeben, aber das bedeutete auch, das Klavier aufzugeben - vor allem das Klavier.«
Das machte mich traurig. Ich hatte das Gefühl, daß sie diese Geschichten noch nicht oft erzählt hatte, und ihre Stimme klang dabei sehr gedämpft.
»Aber was ist mit dem Glück, das du den Menschen mit deinem Spiel geschenkt hast?« fragte ich. »War das nicht etwas von echtem Wert?«
»Doch, das kann man schon sagen«, meinte sie; ihre Stimme wurde noch leiser, und die Worte kamen ihr quälend langsam über die Lippen. »Dann wiederum - ich war mir nicht sicher. Ein solches Talent paßte nicht zu mir. Ich hatte nichts dagegen, daß man mich hörte, aber ich wollte nicht, daß man mich sah.« Sie errötete ein bißchen, als sie mich anschaute. »Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich auf einer Chorempore hätte spielen können oder hinter einem Vorhang.«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Es gibt natürlich viele Menschen, die so empfinden.«
»Aber du nicht, oder?«
Ich schüttelte den Kopf.
Sie erzählte, was es für eine Qual gewesen war, sich in weiße Spitze zu kleiden und vor einem Publikum spielen zu müssen. Sie tat es ihren Eltern und ihren Lehrern zuliebe. An den verschiedenen Wettbewerben teilzunehmen, war die Hölle gewesen. Aber fast unausweichlich hatte sie gewonnen. Als sie sechzehn war, hatte sich ihre Karriere zu einem Familienunternehmen entwickelt.
»Aber was ist mit der Musik an sich? Hat sie dir Spaß gemacht?«
Sie überlegte einen Moment. »Es war absolute Ekstase«, sagte sie dann. »Wenn ich allein spielte… ohne daß mir jemand zuschaute, dann verlor ich mich völlig darin. Es war fast, als stünde ich unter dem Einfluß einer Droge. Es war… es war beinahe erotisch. Manchmal war ich besessen von Melodien. Sie gingen mir unablässig durch den Kopf. Ich verlor alles Zeitgefühl, wenn ich spielte. Ich kann eigentlich immer noch keine Musik hören, ohne mich davon fortreißen zu lassen. Du wirst hier kein Radio und kein Tonbandgerät finden. Noch heute kann ich so etwas nicht in meiner Nähe haben.«
»Aber warum verweigerst du dir diese Dinge?« Ich schaute mich um. Ein Klavier gab es hier auch nicht.
Sie schüttelte wegwerfend den Kopf. »Die Wirkung ist zu allumfassend; verstehst du das nicht? Ich vergesse dann zu leicht alles andere. Und wenn das geschieht, kommt nichts mehr zustande. Das Leben befindet sich sozusagen in der Warteschleife.«
»Aber, Gretchen, ist das denn wahr?« fragte ich. »Für manche von uns sind doch solche intensiven Empfindungen das Leben Wir suchen die Ekstase. In solchen Augenblicken… transzendieren wir allen Schmerz, allen Kleinkram, alle Plackerei.
So war es für mich, als ich noch lebte. Und so ist es jetzt wieder.«
Sie dachte darüber nach, und ihr Gesicht war glatt und entspannt. Als sie wieder sprach, tat sie es mit stiller Überzeugung.
»Ich will mehr als das. Ich will etwas, das handfester, konstruktiver ist. Aber um es anders auszudrücken: Ich kann solche Freuden nicht genießen, wenn andere Hunger haben oder leiden müssen oder krank sind.«
»Aber solches Elend wird es auf der Welt immer geben. Und die Menschen brauchen Musik, Gretchen; sie brauchen sie ebenso nötig wie Trost oder Nahrung.«
»Ich bin nicht sicher, daß ich dir da zustimme. Ja, ich bin ziemlich sicher, daß ich es nicht tue. Ich muß mein Leben dem Versuch widmen, das Elend zu lindern. Glaub mir, ich habe diese Auseinandersetzungen schon viele Male geführt.«
»Ah, aber daß du die Krankenpflege der Musik vorziehst«, sagte ich, »das finde ich unbegreiflich. Natürlich ist es gut, Kranke zu pflegen.« Ich war zu betrübt und zu verwirrt, um weiter zu argumentieren. »Wie hast du die eigentliche Wahl getroffen?« fragte ich. »Hat deine Familie nicht versucht, dich
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