Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
zu sein. Der Gedanke an die Flugreise weckte eine feige Angst in meiner Seele. Und außerdem war ich gern bei ihr…
Sie hatte entspannt von ihrem Leben in der Mission erzählt und wie gut es ihr von Anfang an gefallen habe. Die ersten Jahre hatte sie in Peru verbracht, und dann war sie nach Yucatán gegangen. Zuletzt war sie im Dschungel von Französisch-Guyana stationiert gewesen, wo primitive Indianerstämme lebten. Die Mission hieß St. Margaret Mary - mit dem motorbetriebenen Kahn fuhr man von der Stadt St. Laurent sechs Stunden lang den Maroni hinauf. Sie und die anderen Schwestern hatten die Betonkapelle neu eingerichtet, das kleine, weißgekalkte Schulhaus und das Hospital. Aber oft hatten sie die Missionsstation verlassen und zu den Leuten in die Dörfer gehen müssen. Sie liebte diese Arbeit, sagte sie.
Sie breitete eine große Zahl von Fotos vor mir aus - kleine rechteckige bunte Bilder von primitiven kleinen Missionsgebäuden, von ihr und ihren Schwestern, von dem Priester, der ab und zu kam, um die Messe zu lesen. Keine der Schwestern trug dort draußen Schleier oder Tracht; sie kleideten sich in Khaki oder weiße Baumwollstoffe und trugen das Haar offen - arbeitende Schwestern, erklärte sie. Und da war auch sie auf den Bildern - glücklich strahlend, frei von jener brütenden Melancholie, die bei ihr spürbar war. Auf einem Schnappschuß stand sie, von dunklen Indianern umringt, vor einem seltsamen kleinen Gebäude mit zierlichen Schnitzereien an den Wänden. Auf einem anderen gab sie einem schattenhaft dürren alten Mann, der auf einem buntbemalten Stuhl saß, eine Spritze.
Das Leben in diesen Urwalddörfern war seit Jahrhunderten unverändert, sagte sie. Die Leute hatten dort gelebt, lange bevor die Franzosen oder die Spanier einen Fuß auf südamerikanischen Boden gesetzt hatten. Sie waren schwer zu bewegen, den Schwestern und Ärzten und Priestern zu vertrauen. Ihr selbst war es gleichgültig, ob sie ihre Gebete lernten oder nicht. Ihr lag daran, daß sie geimpft wurden und daß infizierte Wunden ordentlich gereinigt wurden. Ihr lag daran, gebrochene Knochen so zu richten, daß die Leute nicht für alle Zeit verkrüppelt waren.
Natürlich wollten alle, daß sie zurückkam. Ihren kleinen Urlaub hatten sie sehr geduldig hingenommen. Aber sie brauchten sie. Die Arbeit wartete auf sie. Sie zeigte mir das Telegramm, das ich schon über dem Spiegel im Badezimmer gesehen hatte.
»Das alles fehlt dir; man merkt es ganz deutlich«, sagte ich.
Ich beobachtete sie und hielt Ausschau nach Anzeichen für ein schlechtes Gewissen deswegen, was wir getan hatten. Aber ich fand keine. Und wegen des Telegramms hatte sie anscheinend auch keine Schuldgefühle.
»Ich gehe selbstverständlich wieder zurück«, sagte sie schlicht. » Es klingt vielleicht absurd, aber es war schon schwierig, dort wegzugehen. Nur, diese Frage der Keuschheit - sie war zu einer destruktiven Obsession geworden.« Das verstand ich natürlich. Sie schaute mich mit großen, ruhigen Augen an. »Und jetzt weißt du«, sagte ich, »daß es eigentlich überhaupt nicht so schrecklich wichtig ist, ob du mit einem Mann schläfst oder nicht. Das hast du doch herausgefunden, nicht wahr?«
»Kann sein«, sagte sie mit leisem, einfachem Lächeln. Wie stark sie wirkte, wie sie da auf der Decke saß, die Beine sittsam seitwärts geknickt, das Haar immer noch offen und hier in diesem Zimmer eher wie ein Nonnenschleier als auf einem der Fotos.
»Wie hat es für dich angefangen?« fragte ich.
»Hältst du das für wichtig? Ich glaube nicht, daß du meine Geschichte billigen wirst, wenn ich sie dir erzähle.«
»Ich möchte es aber wissen«, sagte ich.
Sie war als Tochter eines katholischen Lehrers und einer Buchhalterin im Chicagoer Stadtteil Bridgeport aufgewachsen, und schon sehr früh hatte sie ein großes Talent zum Klavierspielen erkennen lassen. Die ganze Familie hatte Opfer gebracht, damit sie bei einem berühmten Lehrer Unterricht nehmen konnte. »Selbstaufopferung, verstehst du?« Sie lächelte wieder leise. »Von Anfang an.
Nur war es damals Musik, nicht Medizin.«
Aber schon damals war sie tief religiös gewesen; sie hatte die Lebensgeschichte der Heiligen gelesen und davon geträumt, selbst eine Heilige zu werden - und in den fernen Missionen zu arbeiten, wenn sie erwachsen wäre. Die heilige Rose de Lima, die Mystikerin, hatte sie besonders fasziniert. Auch St. Martin de Porres, der mehr in der Welt gewirkt hatte. Und die heilige Rita.
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