Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Vorschein kam. Auch auf der Brust hatte er dunkle Haare, die aus dem offenen Kragen hervorsprießten. Es war nur wenig Grau darin, wie das Grau, das hier und da in seinem dichten, gut gepflegten Bart auffunkelte. Ich fand es unglaublich, daß er ein Mann von vierundsiebzig Jahren sein sollte.
»Ah, das habe ich mitbekommen«, sagte er und zog leicht die Brauen hoch. »Ich bekomme viel zuviel mit. So. Hören Sie mir gut zu. Sie müssen fest in Ihrem Geist eingraben, daß Ihre Gedanken in Ihnen bleiben sollen, daß Sie nicht versuchen wollen, mit anderen Wesen zu kommunizieren - auch nicht durch Gesichtsausdruck oder Körpersprache: daß Sie tatsächlich undurchdringlich sind. Machen Sie sich ein Bild von Ihrem versiegelten Geist, wenn es sein muß. Ah, das ist gut. Es ist jetzt völlig leer hinter Ihrem hübschen jungen Gesicht. Sogar Ihre Augen haben sich kaum merklich verändert. Tadellos. Und jetzt werde ich versuchen, trotzdem Ihre Gedanken zu lesen. Lassen Sie nicht nach.«
Als fünfundvierzig Minuten vergangen waren, hatte ich den Trick ziemlich mühelos erlernt; aber Davids Gedanken konnte ich immer noch nicht lesen, auch wenn er sich größte Mühe gab, sie mir zu projizieren. In diesem Körper hatte ich einfach nicht die übersinnlichen Fähigkeiten, die er besaß. Aber das Verschleiern beherrschte ich jetzt, und das war ein entscheidender Schritt. Daran würden wir den ganzen Abend weiterarbeiten.
»Wir sind bereit, mit dem Verlassen des Körpers anzufangen«, erklärte er. »Das wird die Hölle werden«, sagte ich. »Ich glaube nicht, daß ich diesen Körper verlassen kann. Wie Sie sehen, besitze ich einfach nicht Ihre Talente.«
»Unsinn«, sagte er. Er lockerte seine Haltung ein wenig, schlug die Fußknöchel übereinander und rutschte in seinem Sessel ein Stück herunter. Aber was er auch tat, irgendwie verlor er nie die Haltung des Lehrers, der Autorität, des Priesters. Sie wohnte seinen kleinen, direkten Gesten inne, und vor allem seiner Stimme. »Legen Sie sich aufs Bett und schließen Sie die Augen. Und hören Sie auf jedes Wort, das ich sage.«
Ich gehorchte. Und sofort fühlte ich mich ein bißchen schläfrig. Seine Stimme wurde in ihrer Sanftheit immer eindringlicher, wie bei einem Hypnotiseur: Er forderte mich auf, mich zu entspannen und mir ein spirituelles Double meiner Gestalt vorzustellen.
»Muß ich mir diesen Körper vorstellen?«
»Nein. Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, daß Sie - Ihr Geist, Ihre Seele, Ihr Selbstempfinden - mit der Gestalt verbunden sind, die Sie sich vorstellen. Stellen Sie sich vor, sie sei kongruent mit Ihrem Körper, und dann stellen Sie sich vor, daß Sie sie hoch- und aus dem Körper hinausheben wollen - daß Sie aussteigen wollen!« Ungefähr eine halbe Stunde lang fuhr David ohne Hast mit diesen Anweisungen fort und wiederholte auf seine Art die Lektionen, die die Priester ihren Initialen seit Jahrtausenden beigebracht hatten. Ich kannte die alte Formel. Aber ich kannte auch die Verletzbarkeit des Sterblichen in ihrem ganzen Ausmaß, und ich empfand das zermalmende Gefühl meiner Beschränkungen und eine Angst, die mich steif und hilflos machte.
So hatten wir vielleicht eine Dreiviertelstunde gearbeitet, als ich endlich in den erforderlichen, angenehm vibrierenden Zustand am Rand des Schlafs verfiel. Ja, mein Körper selbst schien nur noch dieses köstliche, vibrierende Gefühl zu sein! Und als ich das erkannte und gerade eine Bemerkung dazu machen wollte, spürte ich plötzlich, wie ich mich losriß und aufzusteigen begann.
Ich öffnete die Augen - zumindest dachte ich es. Und ich sah, daß ich unmittelbar über meinem Körper schwebte; ja, ich konnte den echten Körper aus Fleisch und Blut überhaupt nicht sehen. »Hoch!« befahl ich. Und sofort stieg ich mit der köstlichen Leichtigkeit und Schnelligkeit eines Heliumballons zur Decke auf! Es war kein Problem, mich umzudrehen und senkrecht ins Zimmer hinunterzuschauen. Ich war durch die Rotorblätter des Deckenventilators gestiegen! Genauer gesagt, er kreiste immer noch in der Mitte meines Körpers, aber ich fühlte nichts. Und dort unten, unter mir, lag die schlafende Menschengestalt, die ich all diese seltsamen Tage hindurch so elend bewohnt hatte. Die Augen waren geschlossen, der Mund ebenfalls.
Ich sah David in seinem Korbsessel, den rechten Fußknöchel auf dem linken Knie, die Hände entspannt auf den Oberschenkel, während er den schlafenden Mann betrachtete. Wußte er, daß es mir gelungen
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