Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Aber wenn ich daran dachte - an den schönen weißen Schnee und an die Wärme in Gretchens kleinem Haus -, dann konnte ich mich eigentlich nicht beklagen. Nur schien es, als sei diese karibische Insel die wahre Welt, die Welt für das wirkliche Leben, und ich staunte wie immer, wenn ich auf diesen Inseln weilte, daß sie so schön, so warm und dabei so arm sein konnten. Hier sah man die Armut überall - an den planlos verstreuten Holzhäusern auf Stelzen, an den Fußgängern am Straßenrand, an den alten, verrosteten Autos und an der totalen Abwesenheit irgendeines Anscheins von Wohlstand, was in den Augen des Außenstehenden natürlich für eine gewisse Heimeligkeit sorgte, aber vielleicht ein hartes Leben für die Einheimischen bedeutete, die nie genug Dollar zusammenbekommen hatten, um diese Gegend - und sei es nur für einen Tag - zu verlassen.
Der Abendhimmel war von tiefem, strahlendem Blau, wie es in diesem Teil der Welt oft der Fall ist, so glanzvoll, wie er es über Miami sein kann, und wie dort bildeten die weichen weißen Wolken ein sauberes, dramatisches Panorama über dem Horizont der blinkenden See. Bezaubernd - und dabei ist dies nur ein winziger Teil der endlosen Karibik. Warum streife ich überhaupt durch andere Klimagegenden? Das Hotel war in Wirklichkeit ein verstaubtes, vernachlässigtes kleines Gästehaus aus weißem Stuck inmitten eines Komplexes von Myriaden rostiger Blechdächer. Nur ein paar Briten kannten es, und es war sehr ruhig, mit einem weitläufigen Flügel voll ziemlich altmodischer Zimmer mit Blick auf den Sand von Grand Anse Beach. Mit überschwenglichen Entschuldigungen wegen der defekten Klimaanlage und der beengten Unterbringung - wir mußten uns ein Zimmer mit zwei Betten teilen, und ich wäre beinahe in lautes Lachen ausgebrochen, als David wortlos die Augen zum Himmel hob, als wolle er sich stumm darüber beklagen, daß die Nachstellungen für ihn wohl nie ein Ende hätten! - demonstrierte uns der Besitzer, daß der Deckenventilator einen ziemlichen Wind machen konnte. Alte weiße Lamellenläden waren außen vor den Fenstern angebracht. Die Möbel waren aus weißem Korbgeflecht, und der Fußboden war mit alten Fliesen ausgelegt.
Ich fand es ganz bezaubernd, aber hauptsächlich wegen der süßen Wärme der Luft, die mich umhüllte, und wegen des Anflugs von Dschungel, der in einem unvermeidlichen Dickicht aus Bananenblättern und Ranken von Königinnenkranz rings um das Gebäude herankroch. Ah, diese Ranke. Eine hübsche Faustregel könnte heißen: Lebe niemals in einer Gegend, in der diese Ranke nicht gedeiht. Sogleich zogen wir uns um; ich streifte den Tweed ab und zog die Sachen an, die ich mir vor der Abreise in New Orleans gekauft hatte, eine dünne Baumwollhose und ein Hemd sowie ein Paar weiße Tennisschuhe; ich unterließ es, mit körperlicher Gewalt über David herzufallen, der mir beim Umziehen den Rücken zuwandte, sondern ging statt dessen hinaus und unter den anmutig geschwungenen Kokospalmen hindurch zum Strand.
Der Abend war so ruhig und sanft, wie ich es noch kaum jemals zuvor erlebt hatte. Meine ganze Liebe zur Karibik erwachte wieder -und mit ihr schmerzhafte wie selige Erinnerungen. Aber ich sehnte mich danach, diese Nacht wieder mit meinen alten Augen zu sehen. Ich sehnte mich danach, durch die zunehmende Dunkelheit hindurchschauen zu können, durch die Schatten, die die Berge ringsherum verhüllten. Ich sehnte mich nach meinem übernatürlichen Gehör, mit dem ich die sanften Gesänge des Dschungels hören könnte, und danach, mit vampirischer Geschwindigkeit die Berge im Inneren zu überwinden und dort die geheimen kleinen Täler und Wasserfälle zu finden, die nur der Vampir Lestat hätte finden können.
Ich empfand schreckliche, schreckliche Trauer um all meine Entdeckungen. Und vielleicht begriff ich es in seinem ganzen Ausmaß erst jetzt- daß alle meine Träume vom sterblichen Leben eine Lüge gewesen waren. Nicht, daß das Leben nicht magisch, nicht, daß die Schöpfung kein Wunder gewesen wäre; nicht, daß die Welt nicht im Grunde gut gewesen wäre. Aber ich hatte meine dunkle Macht als so selbstverständlich empfunden, daß mir nicht mehr bewußt gewesen war, was für einen bevorzugten Standpunkt sie mir gewährt hatte. Ich hatte versäumt, meine Gaben zu zählen. Und jetzt wollte ich sie wiederhaben.
Ja, ich war gescheitert, nicht wahr? Das sterbliche Leben hätte doch genügen müssen!
Ich blickte hinauf zu den herzlosen kleinen Sternen,
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