Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
winziger Details, die kein Sterblicher je sehen konnte. Es war so erregend, die alte körperlose Schwerelosigkeit wieder zu spüren, dieses Gefühl von Gewandtheit und Anmut, daß ich am liebsten zu tanzen angefangen hätte. Ja, es hätte wirklich Spaß gemacht, einen kleinen Steptanz an der Flanke des Schiffes hinauf und an der anderen Seite wieder herunter zu machen, mit den Fingern zu schnippen und dabei Lieder zu singen.
Aber ich hatte keine Zeit für so etwas. Ich mußte sofort herausfinden, was aus David geworden war.
Ich öffnete die Tür zum Gang und entriegelte rasch und geräuschlos das Schloß von Davids Kabinentür gegenüber. Ein kurzer Spurt von übernatürlicher Geschwindigkeit brachte mich hinüber, ohne daß die Leute auf dem Gang mich gesehen hätten.
Alles war fort. Ja, die Kabine war für einen neuen Passagier gesäubert worden. Offensichtlich war David gezwungen worden, das Schiff zu verlassen. Vielleicht war er noch in Barbados! Wenn, dann würde ich ihn bald genug gefunden haben.
Aber was war mit der anderen Kabine - mit der, die meinem sterblichen Körper gehört hatte? Ich öffnete die Verbindungstür, ohne sie zu berühren, und stellte fest, daß auch diese Kabine aufgeräumt und gereinigt worden war.
Was nun? Ich wollte nicht länger als nötig auf diesem Schiff bleiben, denn ohne Zweifel würde ich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, sobald man mich entdeckte. Das Debakel hatte in meiner Suite stattgefunden.
Ich hörte den leicht erkennbaren Schritt des Stewards, der uns tags zuvor so entgegenkommend behandelt hatte, und ich öffnete die Tür, als er gerade vorbeigehen wollte. Als er mich sah, geriet er in heftige Verwirrung und Erregung. Ich winkte ihn herein.
»Oh, Sir, man sucht nach Ihnen! Man dachte schon, Sie hätten das Schiff in Barbados verlassen! Ich muß sofort den Sicherheitsdienst informieren.«
»Ah, aber sagen Sie mir zuerst, was passiert ist.« Ich schaute ihm tief in die Augen, an seinen Worten vorbei, und ich sah, wie der Zauber auf ihn wirkte: Er wurde weich und verfiel in einen Zustand vollständigen Vertrauens.
Es hatte bei Sonnenaufgang einen furchtbaren Zwischenfall in meiner Kabine gegeben. Ein älterer britischer Gentleman - der übrigens zuvor behauptet hatte, mein Arzt zu sein - hatte mehrere Schüsse auf einen jungen Angreifer abgegeben, der - so behauptete er - versucht hatte, ihn zu ermorden; aber keiner dieser Schüsse hatte sein Ziel getroffen. Ja, es hatte auch niemand den jungen Angreifer ausfindig machen können. Aufgrund der Beschreibung, die der ältere Gentleman abgegeben hatte, war man zu dem Schluß gekommen, daß der junge Mann just die Kabine bewohnt hatte, in der wir jetzt standen, und daß er unter einem falschen Namen an Bord gekommen war.
Das galt übrigens auch für den älteren britischen Gentleman. Überhaupt spielte die Namensverwirrung keine geringe Rolle in der ganzen Affäre. Der Steward wußte nicht genau, was alles passiert war - nur, daß man den älteren britischen Gentleman in Gewahrsam genommen hatte, bis er schließlich an Land eskortiert worden war.
Der Steward war ratlos. »Ich glaube, sie waren ziemlich erleichtert, als sie ihn von Bord schaffen konnten. Aber wir müssen den Sicherheitsoffizier rufen, Sir. Man hat sich große Sorgen um Ihr Wohlergehen gemacht. Es ist ein Wunder, daß man Sie nicht angehalten hat, als Sie in Barbados wieder an Bord gekommen sind. Man hat den ganzen Tag nach Ihnen gesucht.«
Ich war ganz und gar nicht sicher, daß ich Lust auf eine eingehende Untersuchung durch die Sicherheitsbeauftragten des Schiffes hatte, aber die Entscheidung wurde mir gleich abgenommen, denn zwei Männer in weißer Uniform erschienen in der Tür der Queen-Victoria-Suite.
Ich dankte dem Steward und trat den beiden Herren entgegen; ich bat sie herein und wich ins Halbdunkel zurück, wie es bei solchen Begegnungen meine Gewohnheit war, ja, ich entschuldigte mich dafür, daß ich kein Licht machte. Das Licht, das durch die Verandatür hereinfalle, genüge vollauf, erklärte ich, in Anbetracht des schlechten Zustandes meiner Haut.
Die beiden Männer waren zutiefst beunruhigt und mißtrauisch, und wieder tat ich mein Bestes, den Überredungszauber wirken zu lassen, als ich mit ihnen sprach.
»Was ist mit Dr. Alexander Stoker passiert?« fragte ich. »Er ist mein Hausarzt, und ich bin äußerst besorgt.«
Der jüngere der beiden, ein rotgesichtiger Mann mit irischem Akzent, glaubte mir offensichtlich kein
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