Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
bunten Drink und stellte das Glas wieder hin.
    »Das schmeckt dir doch nicht wirklich, oder? Wo ist dein abscheulicher Scotch?«
    »Der Drink der Inseln«, sagte er. »Nein, es schmeckt mir nicht, aber das macht nichts. Wie ist es dir ergangen?«
    Ich gab keine Antwort. Ich sah ihn wieder mit meinen alten Augen; seine Haut war durchscheinender, und all die kleinen Gebrechen seines Körpers waren offensichtlich. Dennoch umgab ihn die Aura des Wunderbaren wie alle Sterblichen in den Augen eines Vampirs.
    Er wirkte müde und erschöpft von nervöser Anspannung. Seine Augen waren rot gerändert, und wieder bemerkte ich jenen steifen Zug um seine Lippen. Auch seine Schultern hingen herab. Hatten diese furchtbaren Strapazen ihn weiter altern lassen? Ich ertrug es nicht, so etwas an ihm zu sehen. Aber sein Gesicht war voller Sorge, als er mich anschaute.
    »Dir ist etwas Schlimmes widerfahren«, sagte er, und sein Blick wurde noch milder. Er langte über den Tisch und legte seine Finger auf meine Hand. Wie warm sie waren. »Ich sehe es in deinen Augen.«
    »Ich möchte hier nicht reden«, sagte ich. »Komm mit in meine Suite im Hotel.«
    »Nein, laß uns hierbleiben«, sagte er sehr sanft. »Ich fühle mich sehr durcheinander nach allem, was passiert ist. Es war wirklich eine ziemliche Strapaze für einen Mann in meinem Alter. Ich bin erschöpft. Ich hatte gehofft, du würdest schon gestern abend kommen.«
    »Es tut mir leid. Das hätte ich auch tun sollen. Ich wußte, daß es schrecklich anstrengend für dich sein mußte, auch wenn es dir großen Spaß gemacht hat, als es im Gange war.«
    »Fandest du?« Er lächelte leise und betrübt. »Ich brauche noch etwas zu trinken. Was hast du gesagt? Scotch?«
    »Was habe ich gesagt? Ich dachte, es sei dein Lieblingsgetränk.«
    »Dann und wann, ja.« Er winkte dem Kellner. »Manchmal ist er mir auch ein bißchen zu wuchtig.« Er bat um einen Single Malt, wenn sie welchen hätten. Sie hatten keinen. Nun, ein Chivas Regal wäre auch recht. »Danke für deine Rücksichtnahme. Es gefällt mir hier. Ich mag diese ruhige Betriebsamkeit. Und die frische Luft.«
    Sogar seine Stimme klang müde; ein Funken Munterkeit fehlte ihr. Dies war offenbar kaum der rechte Zeitpunkt, um einen Ausflug nach Rio de Janeiro vorzuschlagen. Und es war alles nur meine Schuld.
    »Wie du möchtest«, sagte ich.
    »Aber jetzt erzähle mir, was passiert ist«, bat er fürsorglich. »Ich sehe doch, daß es dir auf der Seele liegt.«
    Und ich merkte, wie sehr ich mich danach sehnte, ihm von Gretchen zu erzählen, ja, daß ich auch deshalb so schnell hierhergekommen war, nicht nur aus Sorge um ihn. Ich schämte mich, und trotzdem konnte ich nicht anders, ich mußte es ihm erzählen. Ich wandte mich dem Strand zu und stützte die Ellbogen auf den Tisch, und ein Schleier legte sich auf meine Augen, so daß die Farben der abendlichen Welt gedämpft und zugleich leuchtender als zuvor wirkten. Ich erzählte ihm, ich sei zu Gretchen gegangen, weil ich es ihr versprochen hätte, aber tief in meinem Innern hätte ich gehofft und gebetet, ich könne sie in meine Welt mitnehmen. Und dann berichtete ich von dem Hospital, von den ganzen Merkwürdigkeiten dort: die Ähnlichkeit des Arztes mit einem, den es vor Jahrhunderten einmal gegeben hatte, die kleine Krankenstation selbst und diese irrsinnige, verrückte Vorstellung, daß Claudia da sei.
    »Ich war ratlos«, flüsterte ich. »Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß Gretchen mich abweisen könnte. Weißt du, was ich dachte? Jetzt klingt es so töricht. Aber ich dachte, sie würde mich unwiderstehlich finden! Ich dachte, es könnte unmöglich anders sein. Ich dachte, wenn sie mir in die Augen schaute - in meine Augen, nicht in jene sterblichen Augen! -, dann würde sie die wahre Seele sehen, die sie geliebt hatte! Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß sie Abscheu empfinden würde oder daß dieser Abscheu so total - moralisch wie körperlich - sein könnte und daß sie in dem Augenblick, wo ihr klarwurde, was wir sind, in jeder Beziehung vor mir zurückschrecken und sich von mir abwenden würde. Ich begreife nicht, wie ich so töricht sein, wie ich auf diesen Illusionen beharren konnte! Ist das Eitelkeit? Oder bin ich einfach verrückt? Du hast mich doch nie abstoßend gefunden, David, oder? Oder täusche ich mich in diesem Punkt auch?«
    »Du bist schön«, flüsterte er leise und voller Gefühl. »Aber du bist unnatürlich, und das ist es, was diese Frau

Weitere Kostenlose Bücher