Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
winzigen Gefäße in seinen Augen. »Na, was dachten Sie denn?« fragte ich. »Daß ich es aufgegeben habe?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Na dann - haben Sie Lust, mitzukommen und zuzusehen?«
Er sagte nichts, aber ich sah, daß ich ihm angst gemacht hatte.
»Sie dürfen nicht vergessen, was ich bin«, sagte ich. »Wenn Sie mir helfen, helfen Sie dem Teufel.« Ich deutete knapp auf seinen Faust, der immer noch auf dem Tisch lag. Und da war auch die Lovecraft-Story. Hmmm.
»Sie brauchen doch dazu niemandem das Leben zu nehmen, oder?« fragte er ganz ernst.
Was für eine geschmacklose Frage.
Ich schnaufte kurz und verächtlich. »Ich nehme gern jemandem das Leben«, sagte ich und zeigte auf den Tiger. »Ich bin ein Jäger, wie Sie früher auch einer waren. Ich finde, es macht Spaß.«
Er sah mich lange an, und in seinem Gesicht spiegelte sich ratlose Besorgnis; dann nickte er langsam, als habe er es akzeptiert. Aber er war weit davon entfernt.
»Essen Sie zu Abend, während ich weg bin«, schlug ich vor. »Ich sehe, daß Sie Hunger haben. Ich rieche, daß irgendwo in diesem Haus Fleisch gekocht wird. Und Sie können sicher sein, daß ich beabsichtige, es mir schmecken zu lassen, bevor ich zurückkomme.«
»Sie sind durchaus entschlossen, dafür zu sorgen, daß ich Sie kenne, nicht wahr?« sagte er. »Damit keine Sentimentalität und kein Irrtum aufkommen kann.«
»Genau.« Ich zog die Lippen zurück und zeigte ihm für eine Sekunde meine Eckzähne. Sie sind eigentlich sehr klein - überhaupt nichts im Vergleich mit den Fangzähnen des Leoparden und des Tigers, mit denen er sich so offenkundig freiwillig umgibt. Aber diese Grimasse macht den Sterblichen immer angst. Ja, sie tut mehr als das:
Sie schockiert sie. Ich glaube, sie schickt ein urzeitliches Alarmsignal durch ihren Organismus, das wenig mit bewußtem Mut oder mit kultiviertem Verhalten zu tun hat.
Er erbleichte. Bewegungslos stand er da, und nur allmählich kehrten Wärme und Ausdruckskraft in sein Gesicht zurück.
»Also gut«, sagte er. »Ich werde hier sein, wenn Sie zurückkommen. Wenn Sie nicht zurückkommen, werde ich sehr wütend sein!
Ich werde nie wieder mit Ihnen sprechen, das schwöre ich Ihnen. Verschwinden Sie mir heute nacht, werde ich Ihnen nicht einmal mehr ein Kopfnicken gönnen. Ich werde es als ein Verbrechen gegen die Gastfreundschaft betrachten. Haben Sie verstanden?«
»Schon gut, schon gut«, sagte ich achselzuckend, obwohl ich innerlich gerührt war, daß er mich hierhaben wollte. Ich war mir wirklich nicht so sicher gewesen, und ich hatte mich so ungehörig benommen. »Ich komme schon zurück. Außerdem will ich noch etwas wissen.«
»Was denn?«
»Warum Sie keine Angst vor dem Sterben haben.«
»Nun, Sie haben doch auch keine, oder?«
Ich gab keine Antwort. Ich sah wieder die Sonne, den großen Feuerball, der zu Himmel und Erde wurde, und mich schauderte. Dann sah ich diese Öllampe aus meinem Traum.
»Was ist?« fragte er.
»Ich habe Angst vor dem Sterben«, sagte ich und nickte zur Bekräftigung mit dem Kopf. »Alle meine Illusionen werden zerschlagen.«
»Sie haben Illusionen?« fragte er durchaus ehrlich.
»Natürlich. Eine meiner Illusionen war es, daß eigentlich niemand das Geschenk der Finsternis zurückweisen könne, nicht wissentlich wenigstens …«
»Lestat, muß ich Sie daran erinnern, daß Sie es selbst zurückgewiesen haben…?«
»David, ich war ein Kind. Ich wurde gezwungen. Ich habe mich instinktiv gewehrt. Aber das hatte nichts mit Wissen zu tun.«
»Verkaufen Sie sich nicht unter Wert. Ich glaube, Sie hätten auch abgelehnt, wenn Sie alles vollständig begriffen hätten.«
»Jetzt reden wir von Ihren Illusionen«, sagte ich. »Ich habe Hunger. Gehen Sie mir aus dem Weg, oder ich bringe Sie um.«
»Das glaube ich nicht. Und kommen Sie lieber zurück.«
»Das tu ich bestimmt. Diesmal halte ich das Versprechen, das ich Ihnen in meinem Brief gegeben habe. Sie können alles sagen, was Sie zu sagen haben.«
Ich jagte in den Seitenstraßen von London. Ich wanderte in der Nähe der Charing Cross Station umher und suchte nach irgendeinem kleinen Tagedieb, der einen Mundvoll abgeben würde, auch wenn seine mickrigen Ambitionen meine Seele versäuerten. Aber ganz so ergab es sich nicht.
Eine alte Frau war da unterwegs; in einem schmutzigen Mantel schlurfte sie daher, und die Füße hatte sie in Lappen gewickelt. Sie war verrückt und bitterlich durchfroren, und es war so gut wie sicher,
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