Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
drücken, so einfach gehe das nicht. Gott brauche ihn, und Er brauche ihn stark. Das alles klang sehr freundschaftlich.«
»Wie sahen sie aus?«
»Das ist das schlimmste daran. Ich weiß es nicht. In jenem Augenblick sah ich zwei unklare Gestalten, groß, eindeutig männlich oder zumindest in männlicher Gestalt, sagen wir mal, und ansehnlich - nicht monströs, eigentlich überhaupt nicht außergewöhnlich.
Mir war nicht bewußt, daß Einzelheiten fehlten - Sie wissen schon, Haarfarbe, Gesichtszüge, so etwas. Die beiden Gestalten wirkten durchaus vollständig. Aber als ich nachher versuchte, das Ereignis zu rekonstruieren, da konnte ich mich an keine Einzelheiten erinnern! Ich glaube nicht, daß die Illusion derart nah an der Vollständigkeit war. Ich glaube zwar, ich war befriedigt, aber das Gefühl von Vollständigkeit kam von etwas anderem«
»Wovon?«
»Vom Inhalt, von der Bedeutung natürlich.«
»Die haben Sie nicht gesehen, wußten gar nicht, daß Sie da waren.«
»Mein Lieber, sie mußten wissen, daß ich da war. Sie müssen es gewußt haben. Sie müssen es um meinetwillen getan haben! Wie sonst hätte ich es sehen sollen?«
»Ich weiß nicht, David. Vielleicht wollten sie gar nicht explizit, daß Sie es sehen. Vielleicht können manche Leute es sehen und andere nicht. Vielleicht war da ein kleiner Riß in dem anderen Stoff, in dem Stoff, aus dem alles andere in dem Cafe bestand.«
»Das könnte sein. Aber ich fürchte, so war es nicht. Ich fürchte, ich sollte es sehen, und es sollte eine bestimmte Wirkung auf mich haben. Und das ist das Grauenhafte, Lestat. Es hatte keine große Wirkung.«
»Sie haben deshalb nicht Ihr Leben geändert.«
»O nein, überhaupt nicht. Ja, zwei Tage später bezweifelte ich schon, daß ich es überhaupt gesehen hatte. Und jedesmal, wenn ich es jemandem erzählte, bei jeder kleinen verbalen Konfrontation - ›David, du bist verrückt‹ -, wurde alles noch unsicherer und verschwommener. Nein, ich habe deshalb nie etwas unternommen.«
»Aber was wollten Sie auch unternehmen? Was kann man auf irgendeine Offenbarung hin unternehmen, außer daß man ein gutes Leben führt? David, Sie haben doch sicher Ihren Brüdern in der Talamasca von der Vision erzählt.«
»Ja, ja, ich hab’s ihnen erzählt. Aber erst viel später, nach Brasilien, als ich meine ausführlichen Memoiren einreichte, wie sich das für ein gutes Mitglied gehört. Ich habe ihnen natürlich die ganze Geschichte erzählt, wie sie sich darstellte.«
»Und was haben sie dazu gesagt?«
»Lestat, die Talamasca sagt nie viel zu irgend etwas; damit muß man sich abfinden. ›Wir wachen, und wir sind immer da.‹ Und um die Wahrheit zu sagen, es war keine Vision, die bei den anderen Mitgliedern so populär gewesen wäre, daß man gern damit hausieren gegangen wäre. Reden Sie von Geistern in Brasilien, und Sie haben ein Publikum. Aber der Christengott und Sein Teufel? Nein, ich furchte, die Talamasca unterliegt gewissen Vorurteilen und sogar Moden, genau wie jede andere Institution. Die Geschichte stieß hier und da auf ein paar hochgezogene Augenbrauen. Viel mehr habe ich nicht in Erinnerung. Aber wenn Sie mit Gentlemen reden, die Werwölfe gesehen haben und von Vampiren verführt worden sind und mit Hexen gekämpft und mit Geistern gesprochen haben - na, was wollen Sie da erwarten?«
»Aber Gott und der Teufel…« Ich lachte. »David, das ist schweres Kaliber. Vielleicht haben die anderen Mitglieder Sie mehr beneidet, als Ihnen klar war.«
»Nein, sie haben es nicht ernst genommen«, sagte er und nahm meinen Scherz mit einem kleinen Lachen auf. »Es überrascht mich, daß Sie es so ernst nehmen, um ganz ehrlich zu sein.«
Er stand plötzlich erregt auf, ging zum Fenster und zog den Vorhang auf. Er spähte in die schneedurchwirbelte Nacht hinaus und versuchte, etwas zu sehen.
»David, was könnten diese Erscheinungen denn von Ihnen gewollt haben?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er erbittert und mutlos zugleich. »Das ist es ja gerade. Ich bin vierundsiebzig, und ich weiß es nicht. Ich werde sterben, ohne es zu wissen. Und wenn es keine Erleuchtung gibt, dann soll es eben so sein. Das an sich ist ja auch eine Antwort: ob ich bewußt genug bin, um es zu erkennen oder nicht.«
»Kommen Sie wieder her und setzen Sie sich, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich möchte Ihr Gesicht sehen, wenn Sie reden.«
Er gehorchte beinahe automatisch; er setzte sich und griff nach seinem leeren Glas, und sein Blick
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