Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
hat. Ich bin mit allen Suchereien dieser Art fertig. Ich wende mich jetzt an die Welt rings um mich herum, wenn ich Wahrheiten will, Wahrheiten, die im Physischen und im Ästhetischen gründen, Wahrheiten, die ich ganz und gar annehmen kann. Ihre Vision interessiert mich, weil Sie sie gesehen haben und weil Sie mir davon erzählt haben, und weil ich Sie liebe. Aber das ist alles.«
Er lehnte sich zurück und schaute ins Dunkel des Zimmers. »Macht nichts, David. Beizeiten werden Sie sterben. Und ich wahrscheinlich auch.«
Sein Lächeln wirkte wieder warm, als könne er dies nur als eine Art Scherz akzeptieren.
Es folgte ein langes Schweigen, während er sich noch etwas Scotch einschenkte und langsamer als vorher trank. Er war weit davon entfernt, betrunken zu sein. Ich sah, daß er es so geplant hatte.
Als Sterblicher hatte ich immer getrunken, um mich zu betrinken. Aber ich war auch sehr jung gewesen und sehr arm, Schloß hin, Schloß her, und das Bier war meistens schlecht gewesen.
»Sie suchen nach Gott«, sagte er und nickte leicht.
»Den Teufel tu ich. Sie sind zu sehr erfüllt von Ihrer eigenen
Autorität. Sie wissen ganz genau, daß ich nicht der Knabe bin, den Sie hier vor sich sehen.«
»Ah, daran muß man mich erinnern; da haben Sie ganz recht. Aber Sie konnten das Böse nie ausstehen. Wenn nur die Hälfte von dem, was Sie in Ihren Büchern gesagt haben, wahr ist, dann ist klar, daß Ihnen das Böse von Anfang an zuwider war. Sie würden alles dafür geben, herauszufinden, was Gott von Ihnen will, und tun zu können, was er will.«
»Sie sind ja schon senil. Machen Sie Ihr Testament.«
»Oooh, so grausam«, sagte er und lächelte dabei strahlend. Ich wollte noch etwas sagen, als ich abgelenkt wurde. Etwas zupfte l an den Rändern meines Bewußtseins. Geräusche. Ein Wagen, der t sehr langsam über die schmale Straße im fernen Dorf rollte, blind im dichten Schneegestöber.
Ich horchte hinaus, empfing aber nichts, nur den fallenden Schnee und den Wagen, der langsam dahinkroch. Der arme, traurige Sterbliche, der zu dieser Stunde durch die Gegend fahren mußte. Es war vier Uhr.
»Es ist sehr spät«, sagte ich. »Ich muß jetzt fort. Ich möchte nicht noch eine Nacht hier verbringen, obgleich Sie sehr freundlich zu mir waren. Es hat nichts damit zu tun, daß jemand davon wissen könnte. Es ist mir einfach lieber…«
»Ich verstehe schon. Wann werde ich Sie wiedersehen?«
»Vielleicht früher, als Sie glauben«, sagte ich. »David, verraten Sie mir eines: Als ich mich neulich hier von Ihnen verabschiedete, felsenfest dazu entschlossen, mich in der Wüste Gobi zu einem Häufchen Asche zu verbrennen, warum haben Sie da gesagt, ich sei Ihr einziger Freund?«
»Weil Sie das sind.«
Wir saßen einen Augenblick lang schweigend da.
»Sie sind auch mein einziger Freund, David.«
»Wo wollen Sie jetzt hin?«
»Ich weiß es noch nicht. Vielleicht wieder nach London. Ich werde Ihnen Bescheid geben, wenn ich wieder über den Atlantik verschwinde. Ist Ihnen das recht?«
»Ja, bitte sagen Sie es mir. Und… und kommen Sie niemals auf den Gedanken, daß ich Sie nicht sehen möchte. Lassen Sie mich nie wieder im Stich.«
»Wenn ich dächte, ich sei gut für Sie, wenn ich dächte, es sei gut für Sie, wenn Sie den Orden verlassen und wieder auf Reisen gehen …«
»Oh, aber das ist es. Ich gehöre nicht mehr in die Talamasca. Ich bin nicht einmal sicher, daß ich ihr noch vertraue oder an ihre Ziele glaube.«
Ich hätte gern mehr gesagt - hätte ihm gern gesagt, wie sehr ich ihn liebte und daß ich unter seinem Dach Schutz gesucht und er ihn mir gegeben hatte und daß ich das niemals vergessen würde und daß ich alles tun würde, was er wollte, wirklich alles.
Aber es schien mir sinnlos zu sein, das zu sagen. Ich weiß nicht, ob er es geglaubt hätte oder welchen Wert es gehabt hätte. Ich war immer noch davon überzeugt, daß es nicht gut für ihn war, sich mit mir zu treffen. Und in diesem Leben blieb ihm nicht mehr viel Zeit.
»Ich weiß das alles«, sagte er ruhig und beschenkte mich wieder mit diesem Lächeln.
»David«, sagte ich, »der Bericht, den Sie über Ihre Erlebnisse in Brasilien verfaßt haben - gibt es hier eine Kopie davon? Könnte ich diesen Bericht lesen?«
Er stand auf und ging zu dem Bücherschrank mit der Glastür, der gleich neben seinem Schreibtisch stand. Er suchte dort eine ganze Weile in dem umfangreichen Material herum und zog dann zwei große Ledermappen heraus.
»Das
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