Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
noch darüber nachzudenken. Ich raffte Davids Manuskripte zusammen, verließ meine Suite und eilte durch die Feuertür hinaus und aufs Dach. Ich suchte die Nacht nach allen Richtungen ab, aber ich konnte den kleinen Mistkerl nicht entdecken! Ich hätte ihn zweifellos vernichtet, wenn ich ihn zu Gesichte bekommen hätte. Wenn es darum geht, meine Tagesruhestätte zu schützen, habe ich wenig Geduld oder Hemmungen.
Ich stieg empor und legte die Meilen zurück, so schnell ich konnte. Endlich senkte ich mich in einem verschneiten Wald, weit, weit nördlich von London, wieder herab und grub mir mein Grab in der gefrorenen Erde, wie ich es schon oft getan hatte. Es machte mich rasend, daß ich dazu gezwungen war. Ich kochte vor Wut. Ich werde diesen Dreckskerl umbringen, dachte ich, wer immer er sein mag. Wie kann er es wagen, mir nachzusteigen und mir diese Geschichten unter die Nase zu reiben? Jawohl, das werde ich tun: Ich werde ihn umbringen, sobald ich kann.
Aber dann kam die Benommenheit, die Taubheit, und bald war nichts mehr wichtig…
Wieder träumte ich, und sie war da und zündete die Öllampe an |S und sagte: »Ah, die Flamme macht dir keine angst mehr…«
»Du willst mich verspotten«, sagte ich jämmerlich. Ich hatte geweint. »Aber Lestat, du verstehst es wirklich, dich von diesen kosmischen Verzweiflungsanfällen furchtbar schnell zu erholen. Da tanzt du unter den Straßenlaternen von London. Also wirklich!«
Ich wollte widersprechen, aber ich weinte, und ich konnte nicht sprechen… In einem letzten Aufzucken des Bewußtseins sah ich diesen Sterblichen in Venedig - unter den Arkaden an der Piazza San Marco -, wo ich ihn das erstemal bemerkt hatte -, sah seine braunen Augen, seinen weichen, jugendlichen Mund.
Was willst du? fragte ich herrisch.
Ah, aber es geht darum, was du willst, schien er zu antworten.
Sechs
I ch war nicht mehr so wütend auf den kleinen Plagegeist, als ich aufwachte. Eigentlich war ich sogar äußerst fasziniert. Aber jetzt war auch die Sonne untergegangen, und ich hatte die Oberhand.
Ich beschloß, ein kleines Experiment zu wagen. Ich begab mich nach Paris hinüber, schnell und allein.
Lassen Sie mich hier für einen Augenblick abschweifen, um zu erklären, daß ich Paris in den letzten Jahren vollständig gemieden hatte; ja, ich kannte es als Stadt des zwanzigsten Jahrhunderts überhaupt nicht. Die Gründe dafür liegen vermutlich auf der Hand. Ich hatte in vergangenen Zeiten dort viel gelitten, und ich wappnete mich gegen den Anblick von modernen Gebäuden, die sich rings um den Friedhof PèreLachaise erhoben, und von elektrisch beleuchteten Riesenrädern, die sich in den Tuilerien drehten. Aber insgeheim hatte ich mich natürlich immer danach gesehnt, nach Paris zurückzukehren. Wie hätte es anders sein können?
Und dieses kleine Experiment gab mir den Mut und überdies den perfekten Vorwand. Es lenkte den unvermeidlichen Schmerz meiner Beobachtungen ab, denn ich hatte ein Ziel. Aber wenige Augenblicke nach meiner Ankunft begriff ich, daß ich wirklich in Paris war - dies konnte kein anderer Ort sein -, und vom Glück überwältigt, spazierte ich über die großen Boulevards und kam unausweichlich auch an der Stelle vorbei, wo einst das Theater der Vampire gestanden hatte.
Tatsächlich hatten sogar einige Theater aus jener Epoche bis in die moderne Zeit hinein überlebt, und da standen sie nun: Imposant und prachtvoll zogen sie immer noch ihr Publikum an, inmitten von modernen Bauten zu allen Seiten.
Und als ich die strahlend hell erleuchteten Champs-Elysees hinunterwanderte - ein Strom von kleinen, schnellen Autos und Tausenden von Fußgängern drängte sich hier -, sah ich auch, daß dies keine Museumsstadt war wie Venedig. Es war lebendig, jetzt wie in den letzten zwei Jahrhunderten. Eine Hauptstadt und immer noch ein Ort der Innovation und der mutigen Veränderung.
Ich bestaunte die nackte Pracht des Centre Georges Pompidou, das sich in Sichtweite der Bastionen von Notre Dame so kühn erhob. Oh, ich war froh, daß ich gekommen war.
Aber ich hatte eine Aufgabe, nicht wahr?
Ich verriet keiner Seele, sterblich oder unsterblich, daß ich hier war. Ich rief meinen Pariser Anwalt nicht an, obgleich das höchst unpraktisch war. Statt dessen beschaffte ich mir eine große Summe Geldes auf die altvertraute Art und Weise: Ich nahm sie zwei unappetitlichen, aber gutbetuchten Gangstern ab, die mir in den dunklen Straßen zum Opfer fielen.
Dann nahm ich Kurs auf die
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