Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
schockierenden, unbestimmten Blau vorzustellen.
Dann schlug ich langsam den Mantelkragen hoch.
Stundenlang wanderte ich umher. Unablässig klang mir die schöne, kultivierte Stimme in den Ohren.
Es ist nicht bloß das Blut, das Sie ihnen stehlen, es ist das Leben. Noch nie habe ich jemandem etwas so Wertvolles gestohlen. Den Körper ja, aber nicht das Blut und das Leben.
Ich hätte Louis jetzt nicht in die Augen schauen können. Die Vorstellung, mit David zu reden, war mir unerträglich. Und wenn Marius davon erführe, wäre ich erledigt, bevor die Sache angefangen hätte. Wer konnte wissen, was Marius mir antun würde, allein weil ich eine solche Idee in Betracht gezogen hatte? Andererseits würde Marius mit seiner gewaltigen Erfahrung natürlich wissen, ob das Ganze wahr oder erfunden war. Ihr Götter, hatte denn Marius nie den Drang verspürt, es selbst zu tun?
Endlich kehrte ich zurück in mein Apartment und setzte mich, ohne Licht zu machen, mit lang ausgestreckten Beinen auf mein Sofa, und durch die dunkle Glaswand schaute ich auf die Stadt hinunter.
Und bitte vergessen Sie nicht. Wenn Sie mir etwas antun, werden Sie diese Gelegenheit unweigerlich verspielen… Benutzen Sie mich, oder Sie werden nie erfahren, wie es ist, wieder ein menschliches Wesen zu sein… Sie werden nie wissen, wie es ist, im Sonnenschein spazierenzugehen, eine ganze Mahlzeit mit richtigen Speisen zu genießen, eine Frau oder einen Mann zu lieben.
Ich dachte über die Fähigkeit nach, aus der eigenen materiellen Gestalt auszusteigen. Mir gefiel diese Fähigkeit nicht, und spontan kam es bei mir nicht zu dieser Astralprojektion, wie man es nannte, diesem Geistreisen. Ja, ich hatte dieses Talent so selten benutzt, daß ich die Gelegenheiten an einer Hand hätte abzählen können.
Und bei all meinem Leiden in der Wüste Gobi hatte ich nicht versucht, meine materielle Gestalt zu verlassen, noch war ich hinausgetrieben worden, noch hatte ich auch nur an eine solche Möglichkeit gedacht.
Im Gegenteil: Der Gedanke, von meinem Körper losgelöst zu sein - an die Erde gebunden umherzuschweben und keine Tür zu Himmel oder Hölle zu finden -, war absolut grauenerregend für mich. Und daß eine solche reisende, körperlose Seele nicht durch die Pforte des Todes dringen konnte, war mir gleich beim erstenmal klar gewesen, als ich mit diesem kleinen Trick experimentiert hatte. Aber in den Körper eines Sterblichen einzudringen! Mich dort zu verankern, umherzugehen, zu fühlen, zu sehen wie ein Sterblicher… ah, ich konnte meine Erregung kaum noch zügeln. Und sie verwandelte sich in reinen Schmerz.
Nach dem Tausch haben Sie Mittwoch nacht und den ganzen Donnerstag. Den ganzen Donnerstag, den ganzen Tag…
Endlich rief ich irgendwann vor Tagesanbruch meinen Agenten in New York an. Der Mann wußte nichts von meinem Pariser Agenten. Er kannte mich nur unter zwei Namen, und beide hatte ich seit vielen Monaten nicht mehr benutzt. Es war höchst unwahrscheinlich, daß Raglan James etwas von diesen Identitäten und ihren diversen Mitteln wußte. Dies schien mir der einfachste Weg zu sein.
»Ich habe einen Auftrag für Sie, und zwar einen sehr komplizierten Auftrag. Und er muß sofort erledigt werden.«
»Jawohl, Sir; wie immer, Sir.«
»Cut, dann gebe ich Ihnen jetzt den Namen und die Adresse einer Bank im District of Columbia. Bitte notieren Sie…«
Neun
A m nächsten Abend hatte ich sämtliche erforderlichen Unterlagen für den Transfer von zehn Millionen US-Dollar bereitliegen und schickte sie per Boten an die Bank in Washington, dazu Mr. Raglans Bildausweis sowie eine komplette handschriftliche Zusammenfassung meiner Anweisungen, unterzeichnet mit dem Namen Lestan Gregor, denn dieser war aus verschiedenen Gründen für die ganze Angelegenheit am besten geeignet.
Mein New Yorker Agent kannte mich, wie schon angedeutet, noch unter einem zweiten Namen, und wir kamen überein, daß dieser Name bei der ganzen Transaktion nirgendwo auftauchen würde; sollte ich mit meinem Agenten Kontakt aufnehmen müssen, würden dieser zweite Name sowie zwei neue Codewörter ihn ermächtigen, allein auf mündliche Anweisung hin Geld zu überweisen.
Was den Namen Lestan Gregor anging, so sollte er spurlos aus den Unterlagen verschwinden, sobald die zehn Millionen im Besitz Mr. James’ wären. Alle übrigen Vermögenswerte Mr. Gregors sollten dann auf meinen anderen Namen überschrieben werden – der übrigens Stanford Wilde lautete, was immer das jetzt
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