Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Gelächter war. Es war meines. Ich hatte ein Gefühl von übernatürlicher Jugend und endlosen Möglichkeiten. Mit anderen Worten, ich erinnerte mich an den jungen Vampir, der ich damals im achtzehnten Jahrhundert gewesen war, bevor die Zeit ihre Schläge verteilt hatte.
Nun, aber was interessierte mich dieses verdammte Medaillon? Vielleicht hatte ich das Bild aus James’ Gedanken empfangen, als er mich verfolgt hatte. Dann war es für ihn nur ein Mittel gewesen, um mich in die Falle zu locken. Tatsache war, daß ich ein solches Medaillon nie gesehen hatte. Er wäre besser beraten gewesen, sich irgendein anderes Schmuckstück auszusuchen, das einmal mir gehört hatte.
Nein, diese letzte Erklärung war doch zu einfach. Das Bild war zu lebhaft. Und ich hatte es in meinen Träumen schon gesehen, bevor James sich in meine Abenteuer gedrängt hatte. Ich wurde plötzlich wütend. Ich hatte anderes zu bedenken, oder? Hebe dich von mir, Claudia. Nimm dein Medaillon, bitte, ma chérie, und verschwinde.
Sehr lange saß ich regungslos im Dunkeln; ich hörte das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims und lauschte auf die gelegentlichen Verkehrsgeräusche auf der Straße. Ich versuchte die Argumente abzuwägen, die David ins Feld geführt hatte. Ich versuchte es. Aber ich dachte immer nur: Also kann James es wirklich, er kann es wirklich … Er ist der weißhaarige Mann auf dem Foto, und er hat in der Klinik in London mit dem Automechaniker den Körper getauscht. Es ist möglich!
Ab und zu tauchte das Medaillon vor meinem geistigen Auge auf - ich sah das Miniaturporträt Claudias, so kunstvoll in Öl gemalt. Aber dabei erwachte kein Gefühl in mir, keine Trauer, kein Zorn, kein Schmerz.
Es war James, mit dem ich von ganzem Herzen beschäftigt war. James kann es! James lügt nicht. Ich kann in diesem Körper leben und atmen. Und wenn an jenem Morgen die Sonne über Georgetown aufgeht, werde ich sie mit diesen Augen sehen!
Es war eine Stunde nach Mitternacht, als ich in Georgetown ankam. Es hatte den ganzen Abend kräftig geschneit, und die Straßen waren von hohen weißen Schneewehen erfüllt, sauber und schön; Schnee lag wie eine Böschung vor den Haustüren und säumte weiß die verschlungenen schwarzen Eisenzäune und die breiten Fenstersimse hier und dort.
Die Stadt selbst war makellos und sehr charmant; die anmutigen Häuser im Nordstaatenstil, überwiegend aus Holz, hatten die klaren Konturen des achtzehnten Jahrhunderts mit seiner Vorliebe für Ordnung und Gleichgewicht, obgleich viele erst in den Anfangsjahren des neunzehnten Jahrhunderts erbaut worden waren. Ich streifte eine Zeitlang die verlassene M Street mit ihren zahlreichen Geschäftshäusern entlang, dann über den stillen Campus der nahen Universität und schließlich durch die fröhlich beleuchteten Straßen am Hang.
Das Stadthaus, in dem Raglan James wohnte, war ein besonders hübsches Gebäude aus Rotziegeln, es lag unmittelbar an der Straße. Es hatte eine hübsche Eingangstür mit einem massiven Messingklopfer und zwei munter flackernden Gaslampen in der Mitte der Vorderfront. Altmodische, solide Läden zierten die Fenster, und über der Tür befand sich ein hübsches, halbrundes Oberlicht.
Die Fenster waren sauber, obwohl Schnee auf den Simsen lag, und ich konnte in helle, aufgeräumte Zimmer schauen. Die Inneneinrichtung wirkte schick - geradlinige weiße Ledermöbel von extrem moderner Strenge und offensichtlich teuer. Zahlreiche Gemälde hingen an den Wänden - Picasso, de Kooning, Jasper Johns, Andy Warhol -, und zwischen diesen Multimillionendollarbildern verstreut gab es mehrere große, kostbar gerahmte Fotos moderner Schiffe. Mehrere Modelle großer Ozeandampfer standen in Glasvitrinen im unteren Hausflur. Die Fußböden glänzten lackiert. Kleine dunkle Orientteppiche in geometrischen Mustern lagen überall, und die ungezählten Ornamente an Glastischen und intarsienverzierten Teakholzschränkchen waren fast ausnahmslos chinesisch.
Peinlich sauber, modisch, kostspielig und höchst individuell - das war die persönliche Ausstrahlung dieses Hauses. Für mich sah es so aus, wie die Behausungen Sterblicher immer aussahen - wie eine Serie von jungfräulichen Theaterkulissen. Ganz unvorstellbar, daß ich ein Sterblicher sein und in ein solches Haus gehören könnte, und das sogar für eine Stunde oder länger.
Ja, die kleinen Räume waren so blank, daß man sich eigentlich gar nicht vorstellen konnte, wie irgend jemand darin wohnen sollte.
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