Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Sie müssen begreifen, wie zerstörerisch und bösartig dieses Individuum sein kann. Sie dürfen ihm Ihren Körper nicht überlassen! Und genau das haben Sie vor. Schauen Sie, wenn Sie die Absicht hätten, für eine Weile einen sterblichen Körper in Besitz zu nehmen, wäre ich entschieden dagegen, denn das wäre schon diabolisch und unnatürlich genug! Aber Ihren Körper diesem Irren zu geben! Bei allen Göttern, wollen Sie nicht nach London kommen? Lassen Sie sich die Sache ausreden. Das sind Sie mir schuldig.«
»David, Sie haben ihn durchleuchtet, bevor er ein Mitglied Ihres Ordens wurde, nicht wahr? Was für ein Mensch ist er? Ich meine, wie ist er so ein Hexenmeister geworden?«
»Er hat uns getäuscht, mit ausgeklügelten Märchen und gefälschten Unterlagen in einem unglaublichen Ausmaß. Er liebt solche Betrügereien. Und er ist so etwas wie ein Computergenie. Unsere eigentlichen Ermittlungen fanden erst statt, als er weg war.«
»Und? Wo fing alles an?«
»Die Familie war reich. Kaufmannskreise. Verloren ihr Geld vor dem Krieg. Die Mutter war ein berühmtes Medium, anscheinend ganz ehrlich und engagiert; hat für ihre Dienste immer nur Kleingeld berechnet. Jeder in London kannte sie, ich weiß, daß ich von ihr gehört hatte, lange bevor ich anfing, mich für solche Dinge zu interessieren. Die Talamasca erklärte sie bei mehr als einer Gelegenheit für echt, aber sie wollte sich nicht studieren lassen. Sie war ein zerbrechliches Wesen, und sie liebte ihren einzigen Sohn sehr.«
»Raglan«, sagte ich.
»Ja. Sie starb dann an Krebs. Unter furchtbaren Schmerzen. Ihre einzige Tochter wurde Näherin; arbeitet heute noch in einem Brautmodengeschäft in London. Macht einfach exquisite Arbeit. Sie ist immer noch tieftraurig über den Tod ihres mißratenen Bruders, aber auch erleichtert, weil er nicht mehr da ist. Ich habe heute morgen mit ihr gesprochen. Sie sagt, ihr Bruder sei in ganz jungen Jahren durch den Tod der Mutter vernichtet worden.«
»Verständlich«, sagte ich.
»Der Vater hat fast sein Leben lang für die Cunard-Reederei gearbeitet; die letzten zwei Jahre verbrachte er als Kabinensteward in der ersten Klasse auf der Queen Elizabeth II. War sehr stolz auf seine Laufbahn. Gab dann einen großen und schändlichen Skandal, als James durch den Einfluß seines Vaters ebenfalls eingestellt wurde und prompt einen der Passagiere um vierhundert Pfund in bar beraubte. Der Vater enterbte ihn und wurde vor seinem Tod von Cunard rehabilitiert. Hat nie wieder mit seinem Sohn gesprochen.«
»Ah, das Foto auf dem Schiff«, sagte ich.
»Was?«
»Und als Sie ihn hinauswarfen, da wollte er auf ebendiesem Schiff nach Amerika, natürlich erster Klasse.«
»Das hat er Ihnen erzählt? Es ist möglich. Ich habe mit den Einzelheiten eigentlich nichts zu tun gehabt.«
»Ist auch nicht so wichtig. Erzählen Sie weiter. Wie kam er zum Okkultismus?«
»Er war hoch gebildet. Verbrachte mehrere Jahre in Oxford, wenngleich er zuweilen wie ein Sozialfall leben mußte. Betätigte sich hier und da als Medium, auch schon vor dem Tod seiner Mutter. Trat aber erst in den fünfziger Jahren in Paris richtig in Erscheinung; dort hatte er bald eine gewaltige Anhängerschaft, und dann fing er an, seine Klienten auf ganz plumpe und offensichtliche Art zu betrügen, bis er ins Gefängnis kam.
Mehr oder weniger das gleiche passierte später in Oslo. Nachdem er eine Reihe von teilweise wirklich miesen Aushilfsjobs gehabt hatte, gründete er eine Art spiritualistische Kirche, betrog eine Witwe um ihre Lebensersparnisse und wurde ausgewiesen. Dann kam Wien, wo er als Kellner in einem First-Class-Hotel arbeitete, bis er binnen weniger Wochen zum Psychoberater der Reichen avanciert war. Bald hastige Abreise. Entging mit knapper Not der Verhaftung. In Mailand betrog er ein Mitglied der alten Aristokratie um Tausende, ehe man ihm auf die Schliche kam und er die Stadt mitten in der Nacht verlassen mußte. Seine nächste Station war Berlin; hier wurde er festgenommen, konnte sich aber herausreden. Nach London zurückgekehrt, kam er erneut ins Gefängnis.«
»Auf und ab«, sagte ich und dachte an seine Worte. »Immer das gleiche Muster. Er steigt aus den niedersten Tätigkeiten zu einem Leben in extravagantem Luxus auf, gibt unglaubliche Summen für feine Kleider, Autos, Flugzeugreisen hierhin und dorthin aus - und dann bricht alles zusammen, nur wegen kleiner Verbrechen und weil er lügt und betrügt. Es bringt ihn immer wieder zur
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