Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
Sandalen Gedanken zu machen.
Mir wurde nur allzu deutlich klar, daß ich zurück war aus jenen Gefilden, in denen die Beschaffenheit der Kleider vom Willen ihres Trägers abhing. Und daß ich schmutzverkrustet war und tatsächlich nur einen Schuh trug.
Ich stand auf, hellwach, und zog den Schleier sorgsam hervor, ohne ihn aufzufalten oder auch nur einen flüchtigen Blick darauf zu werfen, obwohl ich glaubte, das dunkle Abbild durch den Stoff hindurch wahrnehmen zu können. Ganz bedachtsam zog ich alles, was ich am Leibe trug, aus und stapelte es auf der Wolldecke, damit auch nicht eine Kiefernnadel versehentlich verlorenging. Dann eilte ich ins Bad nebenan - einen kleinen Raum, gekachelt wie üblich und voller Schwaden von heißem Wasserdampf - und badete, als würde ich im Jordan getauft. David hatte all die netten Kleinigkeiten bereitgelegt -diverse Kämme, Bürsten, Scheren. Wesentlich mehr benötigen Vampire eigentlich nicht.
Während ich badete, hatte ich die Tür des Badezimmers offengelassen. Hätte jemand gewagt, meinen Schlafraum zu betreten, ich wäre sofort aus dem dampfenden Bad herausgeschossen und hätte ihn rausgeschmissen.
Endlich, naß und sauber, verließ ich die Wanne, kämmte mich, trocknete mich gründlich ab und zog Stück für Stück meine eigenen Kleider an, meine seidene Unterwäsche, die schwarzen Socken, die Hose aus Wollstoff, das Oberhemd, eine Weste und einen doppelreihigen blauen Blazer.
Dann bückte ich mich und hob den gefalteten Schleier auf. Ich hielt ihn in der Hand, wagte aber immer noch nicht, ihn auseinanderzufalten. Aber ich konnte die dunklen Stellen auf der Innenseite erkennen. Jetzt war ich mir ganz sicher. Ich steckte ihn unter die Weste und knöpfte sie bis obenhin zu.
Ich schaute in den Spiegel. Ich sah einen Irren, der in einem Anzug von Brooks Brothers steckte - ein Dämon mit aufgelösten blonden Locken und offenem Kragen starrte mich mit einem entsetzten Auge aus dem Spiegel an.
Das Auge, lieber Gott, das Auge!
Ich hob die Finger, um die leere Höhle zu betasten, die Lider, die sich schützend darüber schlössen. Was nur, was konnte man tun? Hätte ich doch wenigstens eine schwarze Augenklappe, so ein Ding, wie es die Edelleute früher benutzten. Aber die hatte ich natürlich nicht.
Mein Gesicht war geschändet durch das fehlende Auge.
Ich merkte, daß ich heftig zitterte. David hatte mir eine meiner sehr breiten, schalartigen Krawatten rausgelegt, aus violetter Seide. Die schlang ich derart um meinen Kragen, daß er wie einer dieser steifen altmodischen Stehkragen aufrecht stand und die Seide sich in dichten Falten um ihn legte, wie es auf manchen Portraits von Beethoven zu sehen ist. Die Enden der Krawatte steckte ich in die Weste. Nun glühte mir das rechte Auge leuchtend violett aus dem Spiegel entgegen, in Einklang mit dem Violett des Halstuchs. Doch das wog die Schwärze, die ich auf der linken Seite sah, nicht auf, sondern zwang mich erst recht, hinzusehen.
Ich schlüpfte in meine Schuhe, warf noch einen Blick auf das Häufchen ruinierter Klamotten, las mit spitzen Fingern ein paar Krümel Staub und welke Blätter auf und fügte sie behutsam der Sammlung auf der Decke zu. Dann trat ich hinaus in die Diele.
Das Apartment war herrlich warm und duftete nicht unbedingt überwältigend, nämlich nach einer ziemlich populären Sorte Räucherstäbchen - ein Duft, der mich an katholische Kirchen von früher erinnerte, wenn der Meßdiener das Weihrauchfäßchen an seiner Kette hin- und herschwang.
Ich nahm die drei sehr deutlich wahr, als ich den Wohnraum betrat. Sie saßen in dem freundlichen, hellen Lampenschein zusammen, dessen gleichmäßiges Licht die nächtlichen Fenster zu einem Spiegel werden ließ, hinter dem der Schnee unaufhörlich auf New York niederfiel. Mich verlangte danach, den Schnee zu sehen. Ich ging an den dreien vorbei und drückte mein Auge an das Glas. St. Patricks Dächer waren über und über mit frischgefallenem Schnee bedeckt, obwohl von den steilen Türmen ein Großteil immer wieder herabrieselte, doch jede kleinste Verzierung hatte ein weißes Häubchen. Die Straße unten war ein unwegsames weißes Tal. Hatte man selbst den Einsatz von Schneepflügen aufgegeben?
Ich blickte hinunter auf die New Yorker Bürger. Waren das nur die Lebendigen? Ich versuchte, mit meinem rechten Auge alles zu durchdringen. Die, die ich sah, schienen mir lebendig zu sein. Ich prüfte mit meinen übernatürlichen Sinnen die Dächer der Kirche in
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