Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
Richtung, in der ich Wasser spürte, wo Manhattan endet, und da fand ich dann eine dieser uralten, mit einem eingezäunten Kirchhof umgebenen Kirchen, die noch aus der Zeit stammen, als Manhattan zu Holland gehörte. Die Grabsteine zeigten ehrfurchtgebietende Daten wie 1704 oder gar 1692. Das Gebäude war eine kleine architektonische Kostbarkeit und hatte auch etwas von dem Glanz der berühmten St. Patrick’s Cathedral; ein willkommenes Zeichen noch vorhandener Gewißheiten in dieser Großstadtwüste.
Ich setzte mich auf die Stufen der Kirche, betrachtete liebevoll die behauene Oberfläche des geborstenen Portals, genoß es, mich zurückzulehnen ins Dämmerlicht alter geheiligter Steine.
Sorgfältig vergewisserte ich mich, daß mein Verfolger hier nirgendwo war, daß meine Tat mir weder Besuch aus unbekannten Reichen beschert noch schreckerregende Schritte ausgelöst hatte. Und daß ich immer noch Rogers Ausweise bei mir hatte, was bedeutete, daß es Wochen und Monate dauern konnte, ehe Dora sich beunruhigt fragte, warum ihr Vater sich nicht meldete. Und Einzelheiten würde sie auch nie erfahren.
Das war’s also. Das Ende des Abenteuers.
Ich fühlte mich wesentlich besser als vorher - als zu dem Zeitpunkt, als ich mit David gesprochen hatte. Daß ich noch einmal zurückgegangen war zu diesem monströsen Ding war genau das richtige gewesen.
Ein Problem gab es da noch. Rogers Geruch hing immer noch an mir. Roger. Die ganze Zeit über hatte er »das Opfer« geheißen und nun? Nun nannte ich ihn Roger. War das bezeichnend für Liebe? Dora nannte ihn so, Roger, Daddy, Roge, Dad. »Schatz, ich bin’s, Roge«, pflegte er zu sagen, wenn er sie anrief. »Können wir uns in Florida treffen, nur für ein paar Tage? Ich muß dich sprechen…«
Es schneite nicht mehr, doch es blies ein rauher, kalter Wind, der den Schnee am Boden zu Eis gefrieren ließ. Kein Sterblicher hätte sich in diesem schmalen, hohen, zerborstenen Portal niedergelassen, doch mir gefiel es hier.
Ich holte die gefälschten Papiere hervor und schaute mir den Paß an. Eigentlich war das eine ganze Sammlung falscher Papiere, einige davon für mich nicht verständlich. Ein Visum für Ägypten zum Beispiel. Schmuggelei, ohne Zweifel! Ich riß die Papiere in winzige Fetzen und ließ sie vom Wind davontragen über die Grabsteine hinweg in die Nacht. Ein Windstoß, und sie flogen davon wie Asche, die Asche seiner Persönlichkeit, verweht, als habe er damit einen endgültigen Tribut gezahlt.
Erschöpft fühlte ich mich, gefüllt mit seinem Blut, befriedigt und ziemlich dumm, weil ich mich so gefürchtet hatte vorher, bei meinem Gespräch mit David. Der hielt mich bestimmt für einen Trottel. Jedoch, welche Erkenntnisse hatte ich denn wirklich gewonnen? Doch nur die, daß dieses Ding nicht unbedingt über Roger, mein Opfer, gewacht hatte oder mit ihm im Zusammenhang stand. War mir das nicht von vornherein klar gewesen? Also gab es den Verfolger noch! Offensichtlich wählte er selbst den Zeitpunkt, sich zu zeigen, unabhängig von meinen Handlungen.
Diese kleine Kirche bewunderte ich wirklich, ein unbezahlbares Kleinod und so unpassend zwischen den anderen Gebäuden - wenn man davon absah, daß hier in diesem Durcheinander von Gotik, Klassizismus und Moderne eigentlich nichts mehr unpassend ist. Auf einem Straßenschild in der Nähe stand »Wall Street«. So weit war ich gegangen? Ich lehnte mich gegen die Steine, schloß die Augen. Morgen abend würde ich das alles mit David besprechen. Und was war mit Dora? Lag sie schon längst in ihrem Hotelbett in engelsgleichem Schlaf? Würde ich mir je verzeihen können, wenn ich jetzt noch einen letzten heimlichen, hoffnungslosen Blick auf sie würfe, ehe ich dieses Abenteuer endgültig vergaß? Vorbei.
Ich sollte besser keinen Gedanken mehr an die Kleine verschwenden, sollte nicht mehr daran denken, wie sie, die Taschenlampe in der Hand, die weiten, dunklen Flure des Klosters in New Orleans durchschritt - tapfere Dora. Sie war so ganz anders als die Sterbliche, die ich vor ihr geliebt hatte. Nein, vergiß es. Vergiß es. Lestat, hörst du?
Wenn man sozusagen in Kategorien wie etwa Weltanschauung oder Lebensziel oder ausgeprägte Persönlichkeit dachte, war die Welt voller potentieller Opfer. Vielleicht sollte ich nach Miami zurückkehren, wenn ich David nur überreden könnte mitzukommen. Morgen abend könnten wir uns darüber unterhalten.
Möglicherweise war er gewaltig verärgert, weil ich ihn losgeschickt
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