Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Jahrhundert ist die zivilisierte Menschheit stärker von dem Gedanken der Gerechtigkeit angetan. Ganz gewöhnliche Menschen arbeiten darauf hin, die Reichtümer der Erde zu teilen, die einstmals nur Beute der Mächtigen waren, und die Kunst ist immer der Gewinner, wenn die Freiheit des Einzelnen wächst, sie wird immer fantasievoller, immer einfallsreicher und immer schöner.«
Dies alles konnte ich nur in der Theorie verstehen. Ich glaubte nicht an Gesetze, und sie interessierten mich auch nicht. Tatsächlich hegte ich sogar größte Verachtung für die abstrakten Ideen meines Herrn. Damit meine ich nicht, dass ich ihn verachtete, doch für das Gesetz, für gesetzliche und staatliche Einrichtungen hegte ich eine unterschwellige Verachtung, die so umfassend war, dass ich es mir nicht einmal selbst erklären konnte.
Mein Gebieter sagte, er könne das verstehen. »Du wurdest in einem unaufgeklärten, unzivilisierten Land geboren. Ich wünschte, ich könnte dich zweihundert Jahre zurückversetzen, in die Zeit, ehe Batu, Dschinghis Khans Sohn, die herrliche Stadt Kiew einnahm, zurück in die Zeit, als die Kuppeln der dortigen Santa Sofia wirklich golden waren und die Menschen erfindungsreich und voller Zukunftsgläubigkeit.«
»Von dieser alten Herrlichkeit habe ich bis zum Erbrechen gehört«, sagte ich, ruhig, weil ich ihn nicht verärgern wollte. »Als Junge bin ich mit diesen alten Geschichten von den alten Zeiten vollgestopft worden. Wir lebten in einem elenden Holzbau, nur ein paar Meter von dem zugefrorenen Fluss entfernt, und ich musste mir diesen Mist anhören, während ich zitternd neben der Feuerstelle hockte. Es gab Ratten in unserem Haus. Es gab nichts Schönes dort, außer den Ikonen und den Liedern, die mein Vater sang. Es gab nur Schlechtigkeit, und wie du weißt, rede ich von einem riesigen Land. Du weißt gar nicht, wie groß Russland ist, bis du es selbst gesehen hast, bis du es bereist hast wie ich mit meinem Vater, durch die bitterkalten nördlichen Wälder bis nach Moskau oder Nowgorod, oder gar Krakau.« Ich brach ab. Schließlich fuhr ich fort: »Ich mag nicht daran denken, weder an jene Zeit noch an das Land. In Italien kann man sich nicht einmal im Traum vorstellen, so etwas auszuhalten.«
»Amadeo, die Weiterentwicklung des Rechtes, der politischen Führung verläuft in jedem Land, bei jedem Volk anders. Wie ich dir schon vor langer Zeit erklärt habe, habe ich mich für Venedig entschieden, weil es eine großartige Republik ist und weil die Menschen hier sehr erdverbunden sind, durch die einfache Tatsache, dass sie alle mit Handel und Wandel zu tun haben. Ich liebe Florenz wegen seiner berühmten Familie, den Medici, die alle mit Geldgeschäften zu tun haben. Sie sind keine faulen, mit Titeln behängte Aristokraten, die jede Anstrengung mit Verachtung ansehen, weil sie dem Glauben fronen, von Gottes Gnaden eingesetzt zu sein. Die mächtigen Städte Italiens wurden von Menschen erschaffen, die arbeiten, die schöpferisch tätig sind, die etwas tun, und auf Grund dessen sind die von ihnen geschaffenen Systeme menschlicher, mitfühlender, und bieten unendlich mehr Möglichkeiten für alle Lebensbereiche der Menschen.«
Dieses ganze Gerede entmutigte mich. Was bedeutete es denn schon? »Amadeo, die Welt liegt dir nun zu Füßen«, sagte mein Herr. »Du musst im Auge behalten, dass die Weltgeschichte ständig in Bewegung ist. Bald wird dich der Zustand der Welt bedrücken, und du wirst, wie alle Unsterblichen, feststellen, dass du nicht einfach dein Herz davor verschließen kannst, ganz besonders du nicht.«
»Wieso das?«, fragte ich, ein wenig mürrisch. »Ich glaube schon, dass ich meine Augen davor verschließen kann. Mir ist es doch egal, ob jemand Bankier oder Kaufmann ist! Mir ist es egal, ob ich in einer Stadt lebe, die ihre eigene Handelsflotte hat. Ich kann eine Ewigkeit lang die Bilder in diesem Palazzo betrachten, Herr. Ich habe noch nicht einmal alle Einzelheiten in dem Zug der Heiligen Drei Könige gesehen, und es gibt noch so viele andere Gemälde! Und dann erst die Bilder, die in der ganzen Stadt verstreut hängen!«
Er schüttelte den Kopf. »Das Studium dieser Bilder wird dich zum Studium der Menschheit rühren, und das wiederum wird dich dazu führen, darüber zu jammern oder dich darüber zu freuen!« Ich glaubte das nicht, doch er erlaubte mir nicht, die Kurse zu wechseln. Ich studierte also, was er mir befahl.
Nun hatte mein Herr viele Fähigkeiten, die ich noch nicht
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