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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Wahnsinn treibt? Denn nicht jeder Mensch kann es verkraften, dieses Blut. Es gehört viel Seelenstärke dazu, und man muss gut vorbereitet sein. All das traf bei dir zu. Aber ich kann es in ihr nicht finden.« Ich nickte. Ich wusste, was er meinte. Ich brauchte mir nicht erst alles, was mir widerfahren war, ins Gedächtnis zu rufen, oder mich gar meiner primitiven russischen Herkunft zu erinnern. Er hatte Recht.
    »Immer möchte man diese Macht mit allen teilen«, sagte Marius. »Du musst lernen, dass das nicht geht. Du musst lernen, dass dir mit jedem Vampir, den du erschaffst, eine schreckliche Verpflichtung erwächst, eine schreckliche Gefahr. Denn Kinder erheben sich gegen ihre Eltern, und mit jedem neuen Bluttrinker erschaffst du dir ein Kind, das in ewiger Liebe oder in ewigem Hass zu dir lebt. Ja, Hass!«
    »Du brauchst nichts mehr zu sagen«, flüsterte ich. »Ich weiß schon. Ich habe verstanden.«
    Wir gingen zusammen heim, zu den hell erleuchteten Räumen des Palazzo. Ich wusste, was er von mir erwartete, nämlich dass ich mich unter meine alten Freunde mischte, dass ich freundlich und lieb zu ihnen war, besonders zu Riccardo, der sich, wie ich bald merkte, wegen der kleinen Jungen schuldig fühlte, die an jenem fatalen Tag von dem Engländer hingemordet worden waren. »Spiele ihnen etwas vor und wachse daran«, flüsterte Marius mir ins Ohr. »Noch besser, suche ihre Nähe, sei liebevoll, liebe sie, ohne dir den Luxus vollkommener Ehrlichkeit zu leisten. Denn Liebe kann alles überbrücken.«

13
     
    I n den folgenden Monaten lernte ich mehr, als ich hier je berichten könnte. Ich widmete mich intensiv meinen Studien und interessierte mich sogar für die Regierungsarbeit der Stadt, obwohl ich das grundsätzlich öde fand, gleichgültig, um welche Regierungsform es sich handelte. Gefräßig verschlang ich die Werke der berühmten christlichen Gelehrten und fügte noch Abelard, Duns Scotus und andere große Denker hinzu, die Marius rühmte.
    Marius trieb für mich auch einen Stapel russischer Literatur auf, so dass ich nun zum ersten Mal schwarz auf weiß vor mir sah, was ich bisher nur aus den Liedern meines Vaters und meiner Onkel gekannt hatte. Zuerst dachte ich, dass mich eine ernstliche Beschäftigung damit zu sehr schmerzen würde, aber Marius gab die Richtung vor, und das war klug. Der wertvolle Inhalt der Werke absorbierte meine schmerzlichen Erinnerungen und mehrte im Endeffekt mein Wissen und mein Verständnis für die Dinge.
    Die Dokumente waren alle in Kirchenslawisch geschrieben, die Schriftsprache meiner Kindheit, und das konnte ich bald schon problemlos lesen. Ich las sowohl geschichtliche Chroniken als auch märchenhafte, auf die Bibel bezogene Sagen, die von der Kirche nicht anerkannt wurden, aber einen tiefen Einblick in die russische Seele boten. Die Geschichten und Sagen meines Heimatlandes zu lesen half mir, sie ins Verhältnis zu anderem erlernten Wissen zu setzen, sie also aus dem Reich persönlicher Erfahrungen ins Allgemeine zu übertragen. Nach und nach erkannte ich, wie weise das war. Meine Zusammenfassungen für Marius wurden wesentlich enthusiastischer. Ich bat um weitere Schriftstücke in dieser Sprache, es ging so weit, dass ich diese Werke zu lesen als pures Vergnügen betrachtete und sie mir für meine Freizeit vorbehielt, wo ich dann über den alten Sagen brütete und sogar selbst melancholische Lieder zusammenbastelte. Manchmal sang ich sie den anderen Lehrlingen vor dem Schlafengehen vor. Sie fanden die Sprache sehr exotisch, und manchmal brachte sie schon allein die Melodie und mein schwermütiger Vortrag zum Weinen.
    Inzwischen wurden Riccardo und ich aufs Neue die dicksten Freunde. Er fragte nie, warum ich nun ein Geschöpf der Nacht war, wie unser Meister, und ich versuchte nie, in die Tiefen seines Geistes vorzudringen. Ich hätte es getan, wenn es um meine und Marius’ Sicherheit gegangen wäre, aber ich nutzte meine vampirische Schläue, ihn auf andere Art zu erforschen, und fand ihn immer nur anhänglich, vertrauensselig und treu ergeben.
    Einmal fragte ich Marius, was Riccardo eigentlich über uns dachte. »Riccardo schuldet mir zu viel, als dass er etwas, was immer ich tue, in Frage stellen würde«, sagte Marius ohne Hochmut oder Stolz. »Dann ist er wesentlich besser erzogen als ich, oder? Denn ich schulde dir nicht weniger, und ich stelle alles, was du sagst und tust, in Frage.«
    »Du bist ein schlauer, kleiner Kobold mit einer teuflisch scharfen Zunge«,

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