Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
sich auf die offene See zu. Sie nahm Fahrt auf, als müsste sie sich ihren Weg nicht durch das nächtliche Dunkel bahnen, und die Ruderer arbeiteten so gleichmäßig und schnell und kraftvoll, dass unmöglich ein Sterblicher das Schiff steuern konnte. Es bewegte sich nach Süden. »Gotteslästerer«, flüsterte etwas neben meinem Ohr.
Die Jungen schluchzten und beteten.
»Lasst diese gottlosen Gebete«, sagte eine kalte, übersinnliche Stimme, »ihr Diener des Heiden Marius. Ihr werdet für die Sünden eures Herrn den Tod erleiden, ihr alle.«
Dann folgte ein sinistres Lachen, ein tiefes Grollen wie leiser Donner übertönte ihr von Angst und Schmerz erzeugtes Seufzen und Jammern. Jemand lachte laut und grausam, ohne Ende.
Ich schloss die Augen und verkroch mich tief in mir selbst. Ich ließ mich in die festgehaltenen schrecklichen Erinnerungen zurücksinken, ich war ein schwächliches Gerippe, lag in dem Lehm des Höhlenklosters.
»Lieber Gott«, hauchte ich, ohne die Lippen zu bewegen, »rette sie, und ich schwöre dir, ich werde mich lebendig begraben inmitten der anderen Mönche, ich werde alle Freuden aufgeben. Stunde um Stunde will ich nichts anderes tun als deinen heiligen Namen preisen. HERR, Gott, erlöse mich. HERR, Gott -« Doch als mich eine wahnsinnige Panik erfasste, verlor ich jedes Gefühl für Zeit und Raum und rief nach Marius. »Marius, um Gottes willen, Marius!« Jemand schlug mich. Ein in Leder gehüllter Fuß trat gegen meinen Kopf. Ein anderer gegen meine Rippen, und ein weiterer Fuß zerquetschte mir die Hand. Überall spürte ich diese gemeinen Füße, die mich traten und stießen. Ich wurde schlaff. Jeden wuchtigen Tritt verwandelte ich in eine Farbe und dachte nur ganz bitter, ah, wie schön sind diese Farben! Dann steigerte sich das Jammern meiner sterblichen Brüder, sie machten wohl das Gleiche durch wie ich, und sie, diese zarten, kindlichen Schüler, die so sehr geliebt und geschult und für die große, weite Welt vorbereitet worden waren - welche geistige Trutzburg hatten sie? Sie waren der Barmherzigkeit dieser Teufel ausgeliefert, deren Gründe mir nicht ersichtlich waren und die weit über meine Vorstellungskraft hinausgingen.
»Warum tut ihr uns das an?«, flüsterte ich.
»Um euch zu strafen!«, drang es leise an mein Ohr. »Um euch zu strafen für eure eitlen, gottlosen Taten, für das weltliche, gottlose Leben, das ihr geführt habt. Was ist die Hölle dagegen, kleiner Zögling?«
Ah, das sagten die Vollstrecker in der Welt der Sterblichen schon tausendmal, wenn sie den Ketzer zum Scheiterhaufen rührten. »Was ist das Höllenfeuer gegen dieses kurze Leiden?« Ach, so selbstbetrügerische, arrogante Lügen …
»Meinst du?«, kam wieder diese leise Stimme. »Lege einen Schild um deine Gedanken, kleiner Zögling, denn es gibt genug hier, die jeden Gedanken deines Geistes lesen können. Es mag keine Hölle für dich geben, Kind, aber ewiges Leiden wird es geben. Deine Nächte voller Luxus und schlüpfriger Sinnenfreuden sind vorbei. Dich erwartet die Wahrheit.«
Abermals zog ich mich in mein tiefstes geistiges Versteck zurück. Ich hatte keinen Körper mehr. Ich lag im Kloster, unter der Erde, spürte meinen Körper nicht mehr. Ich beschäftigte meinen Geist damit, den Klang der Stimmen rings um mich zu erkennen, diese lieben, bedauernswerten Stimmen. Ich fand einen der Jungen nach dem ändern, zählte mir langsam ihre Namen auf. Mehr als die Hälfte unserer kleinen Gesellschaft, unserer engelsgleichen Freunde, war in dieser abscheulichen Haft.
Riccardo konnte ich nicht hören. Aber als unsere Häscher für eine Weile ihre Beschimpfungen aufgaben, hörte ich i hn doch. Er intonierte eine lateinische Litanei, seine flüsternde Stimme rau und verzweifelt. »Gesegnet sei der Herr.« Die anderen Jungen antworteten: »Gesegnet sei sein Name.« Und so fort und fort, bis ihre Stimmen langsam verklangen und nur Riccardo allein noch betete. Ich fiel nicht in die Antworten ein.
Doch nachdem seine Schützlinge in gnädigen Schlaf gesunken waren, fuhr er fort zu beten, zu seinem eigenen Trost oder vielleicht auch einfach zur Ehre Gottes. Nach der Litanei sprach er das Vaterunser und wechselte dann zu den alten Worten des Ave, die er immerzu wiederholte wie die Abschnitte eines Rosenkranzes. So betete er still für sich, während er gefangen im Bauch des Schiffes lag. Ich sagte nichts zu ihm. Ich ließ ihn nicht einmal wissen, dass ich hier war. Ich wusste keine Rettung. Ich
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